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aber keineswegs Interessen, die der Nation näher am Herzen liegen, in den Hintergrund zu drängen vermochte.
Sehen wir näher zu, was seit bald zwei Jahren die Gemüther in Frankreich so mächtig bewegt, welcher tiefere Grund dies eigenthümliche Mißbehagen und einen gewissen Mangel an Selbstvertrauen hervorruft, der gerade bei diesem Volke, dem man früher vielmehr Selbstüberschätzung vorwerfen konnte, höchst auffallend ist.
Ohne Zweifel haben die Niederlagen der kaiserlichen Politik in Mexico und Deutschland einen großen Antheil an dem verbreiteten Gefühl der Unsicherheit; außerdem hat die ununterbrochene Bevormundung der Regierung den Franzosen eine sichere, stmffe Leitung von oben so unentbehrlich gemacht, daß das unsichere Umhertasten, das Schwanken und Laviren der innern und auswärtigen Politik nothwendig Mißstimmung erzeugen mußten.
Aber die Geringschätzung und zum Theil Erbitterung gegen das Regime, Empfindungen, die ihren Höhepunkt nach der luxemburger Angelegenheit erreichten und sich bis zur römischen Expedition, abgesehen von unbedeutenden Schwankungen, in derselben Stärke erhielten, haben der Gleichgilttg- keit und Theilnahmslosigkeit gegen die Acte der Regierung Platz gemacht Es scheint, als ob man sich ziemlich allgemein sagt: „wir können einmal keinen entscheidenden Einfluß auf die kaiserliche Politik ausüben; warten wir ruhig ab, bis sich der Augenblick zum Eingreifen unsererseits darbietet und rüsten wir uns inzwischen sogut als möglich für den Kampf." Diese Resignation wird unterstützt durch das Bewußtsein, daß man ohnehin viel nachzuholen und zu vervollkommnen hat auf Gebieten, wo man der staatlichen Einwirkung nicht unmittelbar ausgesetzt ist.
Nach den Urtheilen, wie sie in Schrift und Wort aus der Heimath herüberkommen, sollte man meinen, daß jenseits des Rheins die hier seit 1866 herrschende Stimmung lediglich aus Eifersucht auf die Macht Preußens und aus Mißgunst gegen eine glücklichere Verfassung Deutschlands erklärt wird. Gewiß, diese Empfindungen sind hier stark und allgemein verbreitet; es ist aller Welt genugsam bekannt, Frankreich will es nicht ruhig hinnehmen, daß ihm ein ebenbürtiger Nebenbuhler an seinen Grenzen erwächst. Aber zu welchen Mitteln des Widerstandes will es greifen? Will es sich etwa bei der Vermehrung seines Heeres und der Vervollkommnung seiner Waffen begnügen? Und hat die Schlacht bei Sadowa hier keine andere Frucht, als Haß und Neid getragen?
Es wäre ein verhängnißvoller Irrthum, wenn man sich die Sache so vorstellte. Man übersieht dann, was in Paris und fast allen Provinzial- stcidten seit einem Jahre für großartige Anstrengungen gemacht sind, um den öffentlichen Unterricht zu heben, wie der Eifer, die Kenntnisse zu vermehren