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Umbildung? Offenbar muß mithin jede den Niobiden zugehörige Statue darauf angesehen werden, ob sie nicht ursprünglich ein Bruchstück einer Gruppe ist, das wie jene Halbmenschen des Aristophanes seine Hälfte sucht.
Wohin haben uns von jener heiteren Zuversicht, welche in den beim Lateran gefundenen Statuen die Gruppe des Plinius erkannte, die zahlreichen neuen Entdeckungen geführt, wenn es sich auch nur um die bescheidenere Frage handelt, wieweit uns die erhaltenen Statuen sicheres Material zur Restitution jener berühmten Gruppe bieten? Zu dem ehrlichen Bekenntniß, daß sie uns nicht in den Stand setzen, auf irgend eine der darauf bezüglichen Fragen eine begründete und entscheidende Antwort zu geben. Wir wissen nicht, welche von den erhaltenen Statuen den Originalen jener Gruppe nachgebildet sind, welche nicht. Wir können nicht ermessen, wieweit die Veränderungen gingen, welche sich die Copisten erlaubten. Wir haben keine Vorstellung von dem Umfang der Originalgruppe, um daran nur einen ungefähren Anhalt für die Begrenzung der Auswahl zu finden. Wir sind nicht im Stande, aus den erhaltenen, auf die Niobesage bezüglichen Statuen und Gruppen insgesammt oder mit Auswahl eine befriedigende Composition herzustellen, geschweige daß wir über Anordnung und Ausstellung der Gruppe des Plinius auch nur zu wahrscheinlichen Resultaten gelangen könnten.
Schwache Gemüther beunruhigt es wohl, wenn die durch neue Entdeckungen und geschärfte Beobachtung hervorgerufene methodische Prüfung allgemein giltige und durch die Gewohnheit lieb oder bequem gewordene Vorstellungen als unwahr oder doch unbeweislich zurückweist, ohne daß es ihr zugleich gelingt, ein neues sicheres und befriedigendes Resultat an die Stelle zu setzen. Dann pflegt man auf die destructive Kritik zu schelten, die nur negiren könne. Als ob es kein positiver Gewinn wäre, wenn das Unwahre und Unhaltbare als solches erkannt und nachgewiesen, für die Wahrheit freie Bahn geschaffen, der Blick für die Auffindung und Würdigung der Elemente des Richtigen, wo sie sich auch darbieten, unbefangen und hell gemacht ist. Daß Schnellsein noch nicht zum Laufen hilft, gilt besonders von der wissenschaftlichen Forschung, welche vor allem darüber strenge Rechenschaft verlangt, ob die thatsächlichen Elemente vorhanden sind, aus denen sich sichere Resultate oder beweisbare Combinationen gewinnen lassen. Da jede Hypothese dem nur aus Thatsachen zu schöpfenden Beweis der objectiven Wahrheit vorgreift, hat sie nur insoweit wissenschaftliche Bedeutung, als sie zur Klarheit bringt, daß sie auf sicherem Grunde stehend mit sicheren Factoren nach sicheren Gesetzen operirend die geahnte Thatsache zu errathen sucht. Nur so wird die nachträgliche Bestätigung durch neu entdeckte Thatsachen ein Triumph der Wissenschaft, nur so kann auch der durch neu gewonnene Facta aufgedeckte Irrthum belehrend werden, während selbst scharfsinnige Einfälle im