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Die Restitution verlorner Kunstwerke für die Kunstgeschichte.
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hat Thorwaldsen in einem auf die Kniee gestürzten Jüngling, der im Rücken getroffen ist und mit der Linken nach der Wunde greift, der ehe­mals erhobene Arm und der etwas gesenkte Kopf fehlen die Niobiden- situation und die Verwandtschaft mit den übrigen Statuen so überzeugend aufgewiesen, daß trotz des verschiedenen Fundorts die Zusammengehörigkeit nicht leicht bezweifelt werden wird.

Ließe es sich durch äußere Gründe zur Evidenz bringen, daß der unter dem Namen Jlioneus bekannte wunderschöne Torso der Glyptothek in München, ein Werk der edelsten und schönsten griechischen Kunst, den Niobi- den beizuzählen sei, so würden wir einen neuen Aufschluß-mit einer neuen Schwierigkeit zu erkaufen haben. Der Jüngling ist auf beide Kniee gestürzt, und mit einer Wendung des Körpers, die bei den reinsten Umrissen ein wunderbar belebtes Muskelspiel hervorrruft, wendete er den leider nicht vor­handenen Kopf nach oben und streckte zugleich die nur im Ansatz erhaltenen Arme wie zur Abwehr empor. Die Situation entspricht den Boraussetzungen einer Niobidendarstellung vollkommen, allein nicht nothwendig'diesen allein; es sind andere mythische Vorgänge überliefert, aus denen sich die Stellung kaum -minder befriedigend erklären läßt. Wäre dieser schöne Jüngling ein Niobide, so hätten wir freilich in ihm ein Zeugniß von ganz anderer künst­lerischer Bedeutung für die Leistungen eines Meisters wie Skopas und Praxi­teles, und auf die Copistenarbeit aller sonst zur Niobidengruppe gezogenen Sculpturen würde ein noch schärferes Licht fallen. Aber das würde mit Sicherheit zu behaupten sein, daß diese Statue auch mit den Originalen der Florentiner nie zu einer Gruppe vereinigt gewesen war; denn sie ist ganz nackt, während bei allen der bisher angenommnen Gruppe zugesprochenen Statuen das Gewand eine so bedeutsame Rolle spielt, daß eine Ausnahme von dieser Darstellungswetse bei einer einzelnen Figur undenkbar wäre. Wir müßten also eine zweite Niobegruppe aus der Blüthezeit der griechischen Kunst annehmen, und sofort würden sich die Fragen aufdrängen: war dies nun die Gruppe des Skopas oder Praxiteles, welche Plinius in Rom sah? in welchem Verhältniß stand sie zu jener anderen, deren Existenz und Beliebt­heit in Rom durch die große Zahl von Copieen jedenfalls erwiesen ist?s

Auch ohne daß wir diese Fragen zu beantworten brauchen, bietet uns die Gruppe noch manche Zweifel zu lösen. Die gewöhnlich sogenannte älteste Tochter, welche den Größenverhältnissen nach der Niobe am nächsten steht, ruft bei aufmerksamer Betrachtung mehr als ein Bedenken hervor. Offenbar ist es mit dem Faltenbausch des Gewands auf dem rechten Oberschenkel nicht richtig; man sieht weder, wie er so zu Stande gebracht ist, noch wie sich das Gewand in dieser Lage halten konnte. Doch dies kann die Folge man­gelhafter Restauration sein, der rechte fehlende Arm kann so ergänzt werden,