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wäre in der Bevölkerung politischer Gemeinsinn und politische Kraft vorhanden gewesen, sicher hätte sie dann die Wahrung der innern Wohlfahrt auch den Herrschern als Richtschnur ihres Handelns aufgezwungen und der leidigen Cabinetspolitik einen starken Widerstand entgegengesetzt. Von allen Nationen, die Oestreich bewohnen, thaten es nur-^ die Ungarn, weil diese allein politische, wenn auch vielfach verkümmerte und bestrittene Rechte besaßen, diese allein sich eines wirklichen Staatsbewußtseins, das Opfer und Pflichten abwägt, rühmen konnten. Wir sind des guten Glaubens, daß die innere Stärkung Oestreichs den Bruch mit der veralteten römisch-deutschen Reichspolitik nur beschleunigen kann, daß jeder Fortschritt im liberalen Sinne zur Aussöhnung mit der nationalen Entwicklung Deutschlands führen wird und namentlich den Frieden sichert. Denn alle Errungenschaften der Freiheit würde die erste Kriegswoche, namentlich die erste siegreiche Kriegswoche verwehen. Dagegen ist ein reactionäres concordatliches Oestreich nach unserm Urtheile niemals so schwach, daß es nicht in Verbindung mit andern Feinden Deutschlands uns gefährlich werden könnte. Wir haben daher alle Ursache, mit den Ereignissen der letzten Monate in Oestreich, soweit sie einen wirklichen innern, liberalen Fortschritt bedeuten, zufrieden zu sein. Aber freilich weil eine Täuschung uns die bittersten Früchte bringen würde, müssen wir genau zusehen, was Gold, was blos glänzende Schale an denselben ist.
Es ist auch bei gutem Willen keineswegs leicht, rasch zur richtigen Schätzung der Thatsachen zu gelangen. Sie folgten mit merkwürdiger Schnelligkeit auseinander, vieles muß auf die zufällige Gunst des Augenblickes geschrieben werden, die nicht immer wiederkehrt, sich auch in das Gegentheil verwandeln kann, sie bieten endlich so manche auffallende Anomalien, mit welchen man sich erst auseinandersetzen muß, um die Ereignisse vollkommen würdigen zu können. Der Ausgleich mit Ungarn gelang, weil Herrn von Veust kein Preis so hoch war, daß er ihn nicht angeboten hätte. Derselbe hat in finanzieller Hinsicht Oestreich geschädigt, den nicht ungarischen Reichstheilen Lasten aufgebürdet, die sie auf die Dauer nicht tragen können. Er gefährdet den Staat auch in merkantilischer und militärischer Beziehung. Diese letzten Gefahren, eine kleine Honvedaufwallung abgerechnet, kamen bis- jetzt nicht zum offenen Ausbruch, und insofern kann man wohl von dem sprich- Wörtlichen Glücke Oestreichs reden. Der riesige Ernteertrag in Ungarn, der alle Erwartungen übertreffende Getreideerport macht die Ungarn zum erstenmal seit Jahrzehnten zu willigen Steuerzahlern, die auf Ungarn entfallende Quote kommt voll und rechtzeitig ein, die Befürchtung, daß vielleicht auch diese, so unzureichend sie ist, von den cisleithanischen (sit venis, verbo) Pro- vinzen müsse aufgebracht werden, trifft in diesem Jahre nicht zu. Mit ge- füllter Geldtasche ist man auch für politische Agitationen weniger zugänglich
Grenzboten II. 1868. 16