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je unreifer und unbegründbarer die eigenen Anschauungen find, so hätte man sich über die Intoleranz der Fortschrittspartei bei so vielen Widersprüchen in ihrem eigenen Schooße und einem so wenig festen Programm billig verwundern können. Dieselben Widersprüche, welche bei den Wahlbewegungen zu Tage traten, machten sich auch im parlamentarischen Wirken geltend. Der Gesinnungsterrorismus, der gegen die Bundesverfassung aufgeboten worden, hatte nicht den gewünschten und erwarteten Erfolg gehabt. Die Provinzen glaubten es dem oben erwähnten Dreimännerantrage nicht, daß der Vorlegung und allseitigen Annahme eines freisinnigeren Bundesverfassungsentwurfes wirklich kein Hinderniß im Wege stünde, sie glaubten auch nicht, baß bloße Militärverträge, besonders in kritischen Zeitläuften, das staatsrechtliche Band ersetzen könnten, und waren nicht wenig erstaunt, diese Behauptung gerade von den „entschiedensten" Liberalen aussprechen zu hören. In provinzialen Wahlkreisen wurde denn auch vielfach 'der Versuch gemacht, die Bedeutung des verneinenden Votums der Fortschrittspartei möglichst zu mindern. In der That konnte die Abstimmung gegen eine Verfassung, welche daS legale Erzeugniß des allgemeinen Stimmrechts war, kaum vom Standpunkte des konsequentesten Radikalismus aus gerechtfertigt werden, und auch diesen haben ja die einflußreichsten Mitglieder der Fortschrittspartei niemals eingenommen. Aber noch weniger durfte eine consequent liberale Partei, besonders nachdem sie sich einmal auf den Boden der Bundesverfassung gestellt und die Wahlen zum konstitutionellen Reichstage angenommen, das Organ des allgemeinen Stimmrechts in seiner Autorität zu schwächen suchen. Welchen andern Sinn und Zweck konnte aber das Votum der Fortschrittspartei gegen eine Adresse nach Eröffnung des zweiten Reichstages haben, da doch in diesem Moment kein anderes Mittel gegeben war, das Parlament aus den rein technischen Beschäftigungen in die Sphäre der höheren Politik zu erheben und dadurch dem Drang nach nationaler Einheit einen gewaltigen Ausdruck zu verleihen? Ich übergehe die kostbaren Argumente, womit ein Antrag gefährdet wurde, dessen Beseitigung ein Triumph der Partieularisten gewesen wäre. Herr Ziegler, der Unberechenbare, der vor dem Kriege von 1866 Geist und Muth genug gehabt hatte, in seiner breslauer Wahlrede zu sagen, das Herz der Demokratie schlage da, wo Preußens Fahnen wehen, wurde in das Vordertreffen geschickt und warnte vor der Beunruhigung der Börse, indem er hinzufügte, man brauche dem Grafen Bismarck nicht erst Muth und Entschlossenheit einzuflößen. — Aehnliches wiederholte sich am Schluß des zweiten Reichstages beim Braun'schen Antrage, nur unter noch erschwerenderen Umständen. Dieser Antrag bezweckte bekanntlich, die Erneuerung der Zoll- und Handelsverträge mit den süddeutschen Staaten an die Bedingung der Schutz- und Trutzbündnisse zu knüpfen, die Gemeinschaft der materiellen Interessen von der Ge-