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und von diesem Gesichtspunkt die Aspecten dieses Jahres für das übrige Europa zu betrachten.
Außer Schleswig-Holstein sind es Polen, Italien, die Türkei, welche dem Frieden Europas Gefahr drohen.
Ob der polnische Aufstand im Frühjahr noch einmal größere Verhältnisse annehmen wird, ist sehr zweifelhaft. Er gilt bereits in den Augen vieler begeisterter Polen für hoffnungslos, und er wird gegenwärtig auch von den Mächten Europas fo betrachtet. Die Minorität, welche diese Art von Kampf organisirt hat, ist zu klein und die verzweifelten Mittel, deren sie sich bedient hat, sind zum Theil zu schlecht gewesen. Mordthaten, Raub und Brand haben die Masse der Bevölkerung gegen die Jnsurrection ebenso wie gegen die russische Negierung verstockt. Polen ist aus das Aeußerste erschöpft, wer dort noch etwas zu verlieren hat, fordert Ruhe um jeden Preis. Selbst die Furcht vor den Henkern der Nationalregierung vermag diesen Schrei nicht mehr zu unterdrücken.
Nußland hat für diesen Kampf die größten Anstrengungen gemacht, denn die Gefahr traf diesen Staat in seiner schwächsten Stunde. Sie hat aber vielleicht dazu beigetragen, die Schwierigkeiten, welche der Regierung in Nußland selbst durch die Bauernfrage bereitet wurden, für die Gegenwart zu verringern. Denn die furchtbare Gefahr hat für Rußland die Folge gehabt, daß eine größere Energie in der Staatsleitung, geeignete Persönlichkeiten, ein zum Aeu- ßersten entschlossener Wille herausgekommen sind, das Heer, welches seit dem Krimkriege fast desorganisirt war, ist wiederhergestellt und ergänzt, das Volk ist sich seines Russenthums bewußt worden. Rußland ist in der That jetzt weit stärker, als es beim Beginn des polnischen Aufstandes war. Dennoch hat der große Staat durch mehr als ein Menschcnalter mit einem innern Siechthum zu kämpfen, die Finanzen sind tief zerrüttet, die Emancipation der Bauern in der That noch lange nicht durchgesetzt; die Anfänge einer Nepräsentativverfassung drohen der Regierung eine unabsehbare Reihe von neuen Schwierigkeiten zu bereiten, deren größte in der sittlichen Corruption liegt, welche durch die Leibeigenschaft in die Grundbesitzer, das Beamtenthum, das Heer gekommen ist. Für Unternehmungen nach Außen ist Rußland in diesem Jahre keiner großen Kraftentwicklung fähig. Jedermann weiß, daß es in Schleswig-Holstein sich mit einem diplomatischen Protest begnügen müßte und daß auch dieser durch die Rücksicht auf die befreundete preußische Regierung nicht nachdrücklich geltend gemacht werden könnte. Schwerer - allerdings fällt das Gewicht in die Wagschale, welches Nußland gegen die Türkei einzusetzen hat. Bereits ist in den südwestlichen Provinzen Rußlands eine Armee aufgestellt, welche nicht nur gegen die polnische Erhebung sichern soll, sondern auch bei einem Aufbrechen der türkischen Wunden verwandt werden kann.