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dirccte. das Recht der Urwahl ein ziemlich ausgedehntes. Ist aber schon die Wählbarkeit zum Wahlmann an einen ziemlich hohen Census geknüpft, so ist die Wählbarkeit zu Abgeordneten durch einen geradezu ungeheuerlichen bedingt, so daß von den 856,808 Bewohnern des Großherzogthums 854,40 4 nicht wählbar sind, die Zahl derjenigen mithin, von denen das hessische Volk sich vertreten lassen darf, nur 2,404 Personen umfaßt, wovon überdies mehr als ein Drittel aus solchen besteht, die als Beamte, Offiziere und Pensionäre von der Regierung abhängig sind, und wer Hcsscn-Darmstadt kennt, wird wissen, was es hier heißt, von der Regierung abhängig zu sein.
Mit Hülfe dieses Wahlgesetzes kam denn auch jene wohlbekannte Gesellschaft Dalwigkscher Marionetten, ministerieller Ja-Sager und politischer Nullen zusammen, welche die letztverfloßnen sechs Jahre als „hessische Volksvertretung" sigurirte, und dasselbe Gesetz sollte jetzt wieder seine Dienste thun. Aber die Zeit hatte sich geändert. Umsonst erschöpfte das Ministerium alle die reichlich zu Gebot stehenden Mittel, um die Kräfte, die trotz des Wahlgesetzes den Sieg zu gewinnen drohten, zurückzudrängen, umsonst drohte, vergeblich schmeichelte man durch seine Organe, vergeblich versuchte man alle die Künste der Pression, die man dem Mantcuffel-Wcstphalcnschen Rcgi- mcntc abgelernt. Schon ist kein Zweifel mehr, daß die liberale Partei in der Kammer die entschiedene Majorität haben wird.
Die Bewegung hat so große Dimensionen angenommen, wie nie seit 1848, und was mehr werth ist, sie ist eine reinere und klarere als damals; denn die Jahre der Heimsuchung unter den Dalwigks sind zugleich Jahre der Läuterung gewesen. Fast allenthalben erscheint das Volk massenhaft auf der Wahlstätte. Der unfruchtbare Pessimismus, der die Geister in den Jahren der Reaction für alle politische Thätigkeit brach legte und höchstens aus eine über Nacht, wer weiß woher, kommende Revolution speculirte. ist Dank der durch Dalwigks Maßregeln aufs beste geförderten nationalen Bewegung in weiten Kreisen gewichen, der Horizont hat sich erweitert und erhellt, und mit der gemeinsamen Parole: „Weg mit diesem Ministerium!" sah man überall Constitutionclle und Demokraten sich zum letzten entscheidenden Kampfe jchaarcn. Eben erst hat die Stadt Offcnbach, bekannt seit lange als die freisinnigste des Landes, in letzter Zeit oft genannt wegen des tapfern Auftretens ihrer,, Einhun- dcrtncun", von 2050 Wahlberechtigten 1483. also mehr, als zwei Drittel an die Wahlurne treten sehen, von denen mehr als 1200 für die Liste der Fortschrittspartei stimmten. Ja. selbst in der Residenz, dem guten, wohlgczogenen Darmstadt, wo die Zöpfe bisher alle Jahre besser zu gedeihen schienen, weht die Morgenluft einer neuen Epoche, und wie durch Zauber ist hier über Nacht eine imposante Fortschrittspartei entstanden, die — keine Seele hätte sich dies noch vor Kurzem träumen lassen — nicht blos Beamte zu Führern, sondern in sehr hohen Kreisen unsichtbare Verbündete hat, und die trotz aller Umtriebe von Seiten der Regierung bei den Abgcord- netenwahlen mit 1700 gegen 1620 Stimmen Siegerin geblieben ist. Aehnlich verhält es sich in den Meisten andern Städten des Großherzogthums. und selbst das platte Land hat sich mit kaum geahnter Lebendigkeit der Bewegung angeschlossen. Äon überall her werden Siege der Fortschrittspartei gemeldet, von den 50 Abgeord- netcn der zweiten Kammer sind 25 bis 30 gewählt, und davon gehören höchstens S zu den Anhängern der ministeriellen Politik, die andern vertheilen sich ziemlich