193
der Orgel, die ja allen Gesang begleitet, entweder unter dem Hauptbogen über dem Eingänge zum Chor, oder in einer eigenen Kapelle zur Seite des Chores, und beide Plätze sind gleich ungünstig für den Klang des Instruments. Eine interessante, sür englische Kirchen sehr empfehlcnswerthe Aufstellung der Orgel findet man in der Äll-Saintskirche m London, im Rücken beider Sängerchöre, auf beiden Seiten des Chores. Wie schon gesagt, leitet die Orgel allen Gesang und eröffnet und schließt jede kirchliche Feier init Prae- und Postludien oder vowntlu'ies, wie sie der Engländer nennt, und deutsche Besucher würden manchmal höchlichst erstaunt sein, wenn sie die Kirche nach einem Gottesdienst unter den festlichen Klängen des Hochzeiismarsches aus dem Sommcrnachtstraum, der Ouvertüre zur Zaubcrflöte oder zur Oper Zampa verlassen müßten. Doch merkwürdigerweise scheint der Engländer in dieser Beziehung weder Urtheil noch Takt zu besitzen; alles, was nur nicht geradezu frivole'Musik ist, scheint ihm gut genug für die Kirche. Eine Linie zwischen geistlicher und weltlicher, zwischen katholischer und protestantischer Kirchenmusik', gibt es für ihn nicht; Haydns lustige Messen. Rossini's dramatisches Stabat' mater und Luthers „Eine feste Burg" ist ihm alles dasselbe; daß in den ersten beiden Kompositionen ein entschieden katholisches, dem englischen Protestantismus widersprechendes Element liegt, fällt ihm gar nicht ein. Doch wie könnte man ein Verständniß für kirchliche Kunst erwarten in einem Lande, wo noch vor Kurzem so wenig Verständniß für Tonkunst überhaupt war; das Eine ist durch das Andere bedingt, und je mehr das Bestreben der letzten Jahre, die Musik als Kunst zu verstehen und zu erfassen, um sich greift, desto mehr wird sich das auch allmälig auf die einzelnen Zweige der Musik verbreiten. England ist eines musikalischen Lebens fähig, das beweist seine musikalische Vergangenheit, und es hat jetzt lange genug gefeiert, um endlich einmal wieder zu neuem Schaffen zu erwachen. —
St.
Pmitvlit in den Ichren 1846 und 1847.
Je mehr sich die Schöpfung des Königreichs Italien befestigt, den ungeheuren Schwierigkeiten zum Trotz, welche dessen Geburt und' Wachsthum bedrohten, um so anziehender und vielleicht lehrreicher ist es, sich von dem all- mäligen Entwicklungsproceß Rechnung zu geben, welcher den Ereignissen vorausging, die dann in so rascher Peripetie fast im Lauf weniger' Monate sich vollzogen. Je breiter die Bewegung angelegt war, je tiefer sie in die Gesammtheit der Bevölkerung eingedrungen war, um so günstiger wird sich auch das Urtheil über die Lebensfähigkeit der neuen Ordnung der Dinge gestalten. War sie nur das Werk einiger politischer Köpfe, eines ehrgeizigen Königs, -eines geschickten Diplomaten, eines einzelnen Standes, einer politischen Coterie, um so gewaltiger wird der Widerstand der alten Mächte sein, um so schwieriger die neue Gestaltung sich behaupten. War sie aber geistig lange gereist, bevor der Ausbruch erfolgte, war eine lange Schule vorausgegangen, wobei auch die zahlreichen mißlungenen Versuche zu fördernden Momenten'wurden, gaben die vollziehenden Organe schließlich nur dem Dränge die Sanction, der von unten aus alle Classen der Bevölkerung schon ergriffen hatte, so wird auch vor unserem Urtbeil der Proceß sich der Sphäre des Willkürlichen entziehen, eine gewisse Nothwendigkeit wird als Grundlage und beherrschende Einheit der einzelnen Vorgänge erscheinen, und der Gedanke ist unabweisbar, daß, selbst wenn
Grenzboten III. 18K2. 25