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Der Weltweise von Frankfurt.
Arthur Schopenhauer aus persönlichem Umgang dargestellt. Ein Blick auf sein Leben, seinen Charakter und seine Lehre. Von Wilhelm Gwinner. Leipzig, F. A, Brockhaus. 18N2.
Wir waren bisher der Meinung, daß man nur Heiligenbilder auf Goldgrund malen dürfe. Wir huldigten ferner der Ansicht, daß das Leben und der Charakter eines echten Philosophen wenigstens im Großen und Ganzen seiner Lehre entsprechen müsse, und wir hielten uns der Uebereinstimmung Aller versichert, wenn wir mit dem Begriffe eines Heros der Wissenschaft stillschweigend die Vorstellung einer nobeln Gesinnung, humaner Denkart, feinen Gefühls für das Schickliche und Anmuthige verbanden und kleine Abweichungen hiervon als Ausnahmen, große als undenkbar ansahen. Wir lebten endlich der Ueberzeugung, daß eine philosophische Weltanschauung, die den Fortschritt der Menschheit'in Abrede stellt und deshalb mit Geringschätzung auf die Geschichte blickt, nach Kant und Hegel nicht wohl mehr möglich, mindestens nicht an ihrer rechten Stelle sei, da sie von Rechtswegen nicht an das Ende der Geschichte der Philosophie, sondern an den Anfang dieser Geschichte und der menschlichen Entwicklung überhaupt, wo es eben noch keine Entwicklung zu betrachten und zu deuten galt, in die Zeiten Schakjamunis, an den Ganges oder in den Himalaya gehöre.
Ständen diese Ueberzeugungen uns nicht so fest, wie ungefähr der Satz, daß zweimal zwei vier macht, so würde sie das obige Buch nicht wenig erschüttert haben. Der Verfasser nimmt sich vor und hält sich für befähigt, uns den wahren Schopenhauer zu zeigen. Er sagt: „Aus dem, was fahrende Li-. teraten und Zeitungsschreiber, unterstützt von dem Gewäsche neidischer Zunftkritik, über ihn zusammengetragen, ist allmcilig ein Zerrbild in Umlauf gekommen, dem das Urbild gegenübergestellt werden muß, damit die Nachwelt die rechte Mitte herausfinden könne sammt der Moral." Wenn er sich dieser Aufgabe gewachsen glaubt, so müssen wir ihm dies auf den ersten Blick zugestehen. Er hat den Gegenstand seiner Darstellung lange Jahre genau zu beobachten Gelegenheit gehabt. Er hat einen Trieb zur Wahrhaftigkeit, der keinen Schatten und Mangel wegzulassen gestattet, und so gibt er uns ein Porträt, das in den Einzclnheiten treu wie eine Photographie ist. Dann aber werden wir stutzig, zunächst wenn wir lesen, daß Herr Gwinner mit den Hauptergebnissen des Denkens seines Freundes nicht übereinzustimmen bekennt und