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wehrlos dem Verschlagnen gegenüber; tugendhaft, aber von einer Tugend laut, rauschend, wohltönend wie seine schöne Stimme; voll Empfindsamkeit, voll Begier, das Gute zu thun, aber so. daß tausend Zeitungen die Kunde davon durch die ganze Welt trage», tausend Inschriften. Wappen und Denk« münzen die Vergeßlichsten und Gleichgiltigsten daran erinnern müssen. Wechselnd in Urtheilen und Entschlüssen, je nach dem Stande des Wetters, dem Zuge der Wolken, dem Aussehen des Himmels, dem Fibriren der Nerven und Blutgefäße, nach dem pathologischen Zustande eines siechen Körpers erleidet sein moralischer Mensch alle Einflüsse eines kranken Organismus. Bei aller seiner Sanftmuth und Herzcnsgüte ist man Niemals gesichert vor einem verletzenden Worte, einem plötzlichen Ausbruch von Jähzorn oder sonst einem wenig rücksichtsvollen und liebreichen Thun."
„Diese Fehler", fährt unser Charakterzeichner fort, „sind keine Laster. Sie sind der Dunst und Staub, von dem sich die arme Menschheit, so vollkommen sie sem. so hoch sie stehen mag. nicht läutern und befreien kann. In der Hand ehrlicher und gewandter Minister könntm sie selbst zu Tuge»- den werden und als Same zu edcln Thaten dienen. Allein er ist ein Opfer der Arglistigen geworden, die aus ihm ein Spiel widerstrebender und stets schlechter Begierden gemacht haben. Pius der Neunte war fünfzehn Jahre hindurch der Spielball elender Menschen jeder Art, jedes Landes, jeder Partei und Sccte. die sich unaufhörlich abmühten, einander seine Gewogenheit zu stehlen, um sie ins Gemeine zuziehen und unter die Füße zu treten."
Liverani meint in diesen Zügen Bcnedict den Dreizehnten wiederzuerkennen. Andere haben eine auffallende Aehnlichkeit mit Ludwig dem Sechzehnten herausfinden wollen, noch Andere werden sich durch diese Zeichnung vielfach an einen gekrönten Herrn errinnert sehen, der unsrer Zeit und unserem Lande noch näher stand. Auch wir halten den letzteren Vergleich nicht für ganz unangemessen, statt aber hier ausführlicher auf ihn einzugehen, wollen wir bemerken, daß uns noch ein anderes Königsbild einfällt. Goldene Adern, silberne Adenr, kupferne uud andre Adern von geringem Metall, wenig Halt, wenig Widerstandskraft, kein einheitlicher Charakter und darum äußeren Einflüssen preisgeben — es ist der aus allerlei Erz zusammengesetzte König im Goetheschen Märchen, und nach dem Vorigen fehlt auch die große Schlange nicht, die ihm zuletzt das Gold aus den Adern und Gebeinen leckt. Von dem Vergleich des französische» Prälaten zwischen Christus und seinem Stellvertreter bleibt wenig mehr übrig, als die Wirkung der Keckheit, die ihn eingab.
Oder hätte Liverani zu dunkle Farben gebraucht? Vergleichen wir sein Porträt mit der Biographie Mastai Ferretti's, die Karl Grün in seinem neu-