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Berliner Brief.
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Berliner Brief.

13. Januar.

Morgen wird der Landtag eröffnet. Es ist eine mißliche Sache, heute über die politische Situation zu schreiben. Von Inhalt und Fassung der Thronrede wird die weitere Gestaltung der Dinge zunächst vorzugsweise ab­hängen. Aber wer möchte heute noch sich mit Vermuthungen über diesen Punkt hervorwagen? Ich wenigstens kann das um so weniger thun, weil, bevor diese Zeilen in die Presse gehen, die Thronrede in Aller Händen sein wird. Ich muß mich für heute daraus beschränken, die Eröffnung des Land­tags mit den besten Wünschen zu begleiten. Die Verhältnisse, unter denen er zusammentritt, sind schwierig und eigenthümlich verwickelt. Zwar die Kriegsgefahr, welche noch beim Beginn des neuen Jahres uns bedrohte, ist durch die Mäßigung der nordamerikanischcn Regierung beseitigt. Nachdem Lincoln und Seward, unbeirrt durch den Lärm einer aufgeregten öffentlichen Meinung, stark genug gewesen sind, der Stimme der Vernunft Gehör zu geben, hat England wieder freiere Hand für die europäischen Verhältnisse. Die allgemeine Lage rst dadurch für jetzt weit weniger gespannt, als man noch vor acht Tagen vermuthen durfte. Wir mögen uns freuen, daß der Landtag unter friedlicheren Aspecten eröffnet wird, wenn wir uns auch nicht verhehlen dürfen, daß manche innere Schwierigkeit bei einer drohenden Kriegsgefahr wahrscheinlich leichter gehoben sein würde. Der Kern der Ver­wickelung liegt bei uns in der Militärfrage. Ueber alle anderen Differenzen wird man leichter hinwegkommen. Nun ist unverkennbar, daß der Mehrbewilligung für den Bedarf der Armee weniger Schwierigkeiten entgegen treten werden, wenn sich Kriegsgefahr am politischen Horizonte zeigt, Aber wer möchte so frevel­haft sein, aus solchem Grunde einen Krieg zu wünschen?

An der Möglichkeit einer Verständigung darf man nie verzweifeln. Noth­wendig ist vor allen Dingen nur, daß man dazu von allen Seiten den guten Willen mitbringt, daß man alte Irrungen und Mißverständnisse vergißt und die gegenwärtig vorliegenden Fragen nur nach den in der Sache selbst liegenden Momenten entscheidet, ohne sich durch Zuneigungen oder Abneigungen, die aus früheren Verhältnissen herrühren, bestimmen zu lassen. Je leichter sich dies in der Theorie ausnimmt, desto schwieriger wird es oft in der Praxis. An einige Namen, die jetzt wieder auf dem Kampfplatz erscheinen, knüpfen sich Erinnerungen an eine Zeit, welche zum mindesten seit der Amnestie für alle Parteien der Geschichte angehören müßte. Aber viele sonst wohlwollende

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