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Die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts in Frankreich. 10. : Die Zersplitterung der Genremalerei. Der neueste Realismus. Die Landschaft.
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Menschen), einfache Situationen ästhetischer Beschäftigung oder ruhigen Selbst­genusses, in denen das Individuum mit seinem ganzen Lebensfond bei der Sache ist. In der Zusammenstimmung des Locals mit den Personen, in der Wahrheit der Bewegung, des Ausdrucks, in der Sicherheit der Form- und Farbengebung, endlich in der miniaturartigen Ausführung sind die Sachen unübertrefflich; aber es fehlt den Gestalten doch die Lebenstiefe, die innere Seelenfreude, die allein das Genrebild zum absoluten Kunstwerk erhebt. Seine Figuren sehen doch aus, wie wenn sie um den Beschauer wüßten und nun. wie wenn nichts wäre, mit möglichster Unbefangenheit Alles aufböten, um sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Daß sich Meissonnier an die gezierten Menschen des 18. Jahrhunderts wendet, zeigt eben, daß es seiner Kunst selber an jener Lebenstiefe fehlt. Meissonnier hat mit der feinen Eleganz seiner Cabinetsbilder eine Geschmacksrichtung des Zeitalters getroffen und fand daher eine ziemliche Anzahl Nachahmer: Chavet, Plassan, Fauvelet der indessen seine Vorwürfe meist der neuern Zeit entnimmt Hadomard, Ruiperez. Keiner kommt dem Meister gleich. Eugene Fichel malt in derselben Weise heitere ge­sellschaftliche Scenen des 18. Jahrhunderts von größerer Ausdehnung ohne allen Humor. Joseph Caraud und Alphonse Roehn stellen die Rococo- zeit in größerem Maßstabe mit ziemlicher Fertigkeit dar. ohne es weiter als zu ausdruckslosen Costümbildern zu bringen.

Fühlt sich der Künstler durch die Armuth und Nüchternheit der gegen­wärtigen Culturformen und durch die mürrische Knappheit, die selbst den Freuden unserer Zeit anklebt, in die Vergangenheit zurückgetrieben: so ist es wol derselbe Mangel, der ihn in den Werken der Dichter nach Vorwürfen suchen heißt, die sich allenfalls von der bildenden Phantasie gestalten lassen. Es ist immer mißlich, wenn sich die eine Kunst aus der andern die Stoffe holt, weil sie dieselben von ihr schon halb zubereitet empfängt; es zeugt von einem gewissen Unvermögen des innern Schaffens und vermehrt die Träg­heit, weil mit den Gestalten, die dem Dichter eigenthümlich angehören und dies ist in der modernen Poesie der Fall sich nicht nach Belieben um­springen läßt. Schon die Romantik hatte, um stärker auf die Phantasie zu wnken, dieses Entlehnungssystem angefangen, und in neuester Zeit wimmelt es geradezu von Darstellungen nach neueren Dichtern. So lassen sich Herman Bohn und Duval le Camus (der Jüngere) ihre Motive gerne von Shake­speare geben; der Erstere bringt es nicht zum Fluß des Gestaltens. der Zweite verflüchtigt das Bild des Poeten in phantastische Nebel. Von Dor6's Dante 'st schon die Rede gewesen. Andere suchen sich haarsträubende Greuelmomente, bei denen nicht einmal der Gedanke verweilen mag. bei Victor Hugo. Be­sondere Gnade aber hat jetzt der Goethe'sche Faust vor den Augen der fran­zösischen Genremaler gefunden. So hat neuerdings Tissot Gretchen und