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gereift ist, als die italienische zur Stunde war, da ihre Staatsmänner die Zeit erfüllt glaubten, ob nicht die sittlichen Motive unsrer Vaterlandsliebe noch tiefer wurzeln, ob nicht die extremen Parteien, welche noch heute das Werk Italiens gefährden, bei uns mit größerem Rechte als innerlich überwunden gelten können. Was uns dagegen fehlt ist leider nur allzu offenbar. Uns fehlt der Muth der Initiative, der Muth zu dem entscheidenden Schritte von der Pflege der Idee zu ihrer Verwirklichung, uns fehlt vor Allem der kühne Staatsmann, der im Vertrauen auf die Macht der Idee die Früchte der geistigen Vorarbeit zu pflücken versteht. Also doch ein Cavour? Bei den Urtheilen, welche in der letzten Zeit über Cavour gefällt wurden, ist in der Regel auch von seinen diplomatischen Künsten, von seinem Macchiavellismus die Rede gewesen. Auch unser Verfasser nennt ihn eine Jncarnation von Macchiavelli's Kunst und deutet damit an. daß er in der Wahl der Mittel eben nicht sehr gewissenhaft gewesen sei, nicht die Gewissenhaftigkeit Balbo's. nicht die „deutsche Art" gehabt habe. Uns scheint bei diesem Urtheil eine kleine Selbstgerechtigkett mit unterzulausen, die um so weniger berechtigt ist, als sie nicht einmal selbst an sich glaubt. Sieht sich doch auch Reuchlin zu dem Geständnis; genöthigt: „In der Ausführung, als Mittel zur Erreichung der Unabhängigkeit konnte Macchiavelli's Kunst wol nicht entbehrt werden." Wird uns mit dieser Anschauung nicht ein Dilemma gestellt, in welchem doch die Entscheidung nicht zweifelhast sein kann?
Allein in Wahrheit besteht dieses Dilemma gar nicht. In aller Welt werden die Staatsmänner nicht mit dem Maßstab der bürgerlichen Moralität gemessen, oder würde etwa ein Friedrich der Große vor diesem Tribunal bestehen? Der höchste Maßstab zu ihrer Beurtheilung ist vielmehr unstreitig der, inwiefern das Ziel, welches sie anstrebten, ein sittlich berechtigtes, die Idee, für deren Verwirklichung sie kämpften, eine innerlich wahre, edle und große, persönlicher Eitelkeit und Selbstsucht enthobne war, und wir denken, vor diesem Tribunale dürfte Graf Cavour unbedenklich erscheinen. Selbst wenn wir an die Mittel seiner Politik einen andern Maßstab legen wollen, so könnte doch im Grunde nur der von ihm cmgerathene und durchgesetzte Ländertausch einem Tadel unterliegen. Allein gerade in diesem Fall wird ein endgiltiges Urtheil dadurch erschwert, wo nicht unmöglich gemacht, daß er mitten in seinen Entwürfen und Arbeiten, mitten in einer entscheidenden Krise seinem Vaterland entrissen wurde, so daß wir weder im Stande sind mit Sicherheit zu sagen, welche Berechnung er mit jenem gewiß von ihm selbst in seiner ganzen Schwere erwogenen Schritte verband, und noch weniger jetzt schon entscheiden können, ob seine Berechnung richtig war oder nicht.
Daß nur ein Mann von Cavours Art im Stande war die nationale Idee der Italiener zu verwirklichen, ist eine Lehre; die sich gerade aus der