Neue Romane.
Berthold Auerbach: Joseph im Schnee. Eine Erzählung. Stuttgart. Cotta. — Die Stichworte „Realismus" und „Idealismus" werden in unsern ästhetischen Lehrbüchern und Zeitschriften noch immer so ungenau verwendet, daß es nicht unnütz ist, von Zeit zu Zeit wieder darauf zurückzukommen. — Die Formel, nach der beide Begriffe ihre Berechtigung finden, haben wir schon seit längerer Zeit festgestellt. Der Zweck der Kunst, namentlich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d. h. Gestalten und Geschichten, deren Realität man wünschen muß. weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen, belustigen u. s. w.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d. h., eine der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künstlerischen Ideale glauben. — Dies Gesetz gilt für jede Form der Dichtkunst, für jede Zeit, und classisch wird derjenige Dichter sein, der in seinen Werken allgemein menschliche Ideale, d. h. echten bleibenden Lebensgehalt darstellt, und der diese Ideale so darzustellen weiß, daß jede Zeit an ihre Realität glaubt. Je schärfer der Blick eines Dichters für das Wesentliche des Geistes ist, je mehr er von dem Zufälligen und Unwesentlichen seiner Zeit zu ab- strahiren weiß, desto classischer wird er sein, d. h. desto länger wird er dem Menschengeschlecht verständlich und werth bleiben. — Um ein classischer Dichter zu werden, reicht aber die große Begabung allein nicht aus: die Zeit, in der er lebt, muß ihm wirklichen, echten Lebcnsgehalt bieten, und zugleich den Stoff, in dem er denselben darstellen kann, d. h. eine bis auf einen gewissen Grad entwickelte Sprache. — Wo das eine oder das andere fehlt, wo der Dichter entweder den echten Lebensgehalt erst mühsam suchen, wohl gar aus fremden Anschauungen entlehnen, oder wo er sich die poetische Sprache erst mühsam erkämpfen muß, werden immer nur Dichter zweiten Ranges hervorgehn, d. h. Dichter, deren Arbeit von einer weiter entwickelten Bildung in ihre Elemente aufgelöst, und damit als nicht ursprünglicher Schöpferkraft angehörig betrachtet werden kann. — So haben wir das „classische Zeitalter" der Römer an Bildung überholt, und weil sein Inhalt nicht aus der Natur- kraft des Volks geschöpft, sondern einer fremden Bildung entlehnt war, so Grenzboten IV. 1L60. 61