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Die londoner Presse.
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organ an Talent. Der Herald wurde langweilig, seine Artikel, mittelmäßig, ohne Geist und Witz, der Klarheit und publicistischen Routine entbehrend, lasen sich, als ob sie von lauter graugewordenen alten Herren geschrieben wären. Seit dem vorigen Jahr indeß hat er eine gewisse Verjüngung er­fahren und in Folge dessen an Ansehn gewonnen. Er tritt wenigstens in Bezug auf die auswärtige Politik consequent. ernst und ehrlich für die alten Tory-Grundsätze auf, und auch sein Stil ist wieder jugendlicher und straffer geworden. Eigenthümer und oberster Leiter des Unternehmens ist jetzt ein Mr. Johnston.

Der Morning Advertiser. 1794 gegründet, ist ein Blatt eigenster Art. Er ist das Organ der großen und wohlhabenden Classe der sogenann­tenlieensecl viotuallei-s" oderxublieaus", zu deutsch der Destillateure, die das Unternehmen in sehr einfacher Weise aufrecht erhält und sogar ergiebig macht, indem jeder pudlioan sich ein Exemplar des Blattes hält, wodurch natürlich ein beträchtliches Kapital zusammenkommt. Der gegenwärtige Re­dacteur ist ein Mr. Grant, der zu den eifrigsten Anhängern Palinnstons ge­hört. Hnuptgrundsatz desselben scheint zu sein: nicht wesentlich klüger sein, als die Leser. Logik und Conseqnenz sind verpönt, fast ebenso sehr als Gelehrsamkeit. Ursprünglich gab es nur zwei Dinge, die der Advertiser aus­gesprochenermaßen verfocht: die Interessen der Destillateure und die Doctrinen der Low-Church-Männer. Dazu kam 1848 ein drittes: die Grundsätze eines großsprecherischen, im Grunde aber zahme», oft ziemlich abgeschmackten Ra- dicalismus. Sein Einstehn für die Lehren der Low-Church und sein Kampf gegen Rom und die Puseyitcn ist ehrlich und jedenfalls die respectabelstc Seite des Blattes, es ist ein Rest aus Cromwells Tagen, der sich in den unteren Schichten des englischen Bürgerstandes erhalten hat. In Betreff seiner aus­wärtigen Politik nimmt der Advertiser den Standpunkt eines liberalen faseln­den Kannengießers em, der seine Weisheit meist aus dem Munde von Flücht­lingen geschöpft »nd da bisweilen Wahres, in der Regel aber Unsinn erfährt. Seine politischen Nachrichten sind zum guten Theil Enten, die für das Bier­haus berechnet sind. Wie gut er über Deutschland unterrichtet ist. zeigt die Nummer vom 7. Juli 1858. wo es unter Anderen hieß:Warum legt Deutsch­land die Hände in den Schovß? Warum keine Rührigkeit im Lager der Freien? Wol ist es wahr, daß Säbel. Kutte und Gendarmenthum mit schnöder Omni- potenz im Lande herrschen, aber zugleich wissen wir auch, daß noch ein paar Oasen der Freiheit, Städte wie Hamburg (!) übrig geblieben sind, wo es den Liberalen aller deutschen Länder möglich sein würde, sich zu vereinigen und ihre Gedanken über nationale Freiheit und Einigkeit auszutauschen." Die tägliche Auflage des Advertiser betrug 1855 beinahe ?ooo Exemplare, und es ist wahrscheinlich, daß er diese Zahl jetzt überschritten hat.

Grenzboten IV. 1860. 19