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Neue Literatur der deutschen Alterthumswissenschaft.
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teresse, aus dem unerschöpflichen Quell der lebendigen Muttersprache eine so große Fluch klar und durchsichtig i» stattlicher Einfassung zusammengeschöpft zu finden.

Dabei kann man immer aufs Neue beobachten, wie vieles von der eigenen Sprache dem einzelnen Lebenden fremd bleibt. Und ferner wie zahlreich sind Ab­leitungen, selbst Stammwörter, treffende charakteristische, schöne Ausdrücke und Redensarten, welche in den letzten Jahrhunderten entstanden und wieder ver­klungen find. Jede Zeitbildung, ja jede kräftige Persönlichkeit hat Originelles erfunden, und neben der Hauptmasse, welche lebendig auf viele folgende Ge­nerationen überging, aber, wie vieles Brauchbare und Schöne ist wieder so verloren, daß es nicht einmal mehr im Voltsmund und in den Dialekten zu finden ist. Am meisten sind die Verlornen Stammwörtcr zu bedauern. Denn jedes Stammwvrt, welches im Volke lebendig bleibt, ist dem Deutschen ein lebendiges, immer neue Früchte tragendes Gebilde, welches eine Anzahl abgeleiteter Wörter, so oft das Bedürfniß kommt, mit Leichtigkeit auS sich entwickelt. Jeder Schriftsteller, welcher Einfluß auf die Mit- und Nachwelt gewinnt, ist zugleich ein freier Verwalter des Sprachschatzes. Er vermag seltne' Habe ans dem Alterthum zu bewahreu, fast Verschollenes wieder zu beleben und Fehleudes ganz neu zn erfinden. Unendlich. verschieden ist sowol die Sprachgewalt, als der Wortreichthum, mit welchem der Einzelne arbeitet. Er holt sein Sprachmatcrial zum Theil aus der Schriftsprache, der er den größten Theil seiner Bildung verdankt, zum Theil von dem Dialekt der Heimath, aus dem er heraufgewachsen ist. Nicht jeder Dialekt begünstigt in gleichem Maße die Verwendung seiner Wörter und Redewendungen für die Schriftsprache, aber auch nicht jede Persönlichkeit ist in gleicher Weise befähigt, den Dialekt der Heimat zur Bereicherung der Schriftsprache auszubeuten. Es ist klar, daß zu solcher Bereicherung der Sprache mehrere Vorzüge zusammentreffen müssen, ein behagliches Ruhen in den angestammten Sprachtraditioncn, sou­veräne Leichtigkeit im Ausdruck, verbunden mit feinem Sprachsinn, und das immer rege Bedürfniß nach energischem und characteristischcm Ausdruck. Wol bekannt ist, daß kein Deutscher in höherm Grade diese Sprachtugenden besaß, als Luther, und im letzten Jahrhundert Goethe, die doch beide so sorglos im Gebrauch ihres Reichthums sind. Und der würde eine große uud feine Ar­beit wagen, der es unternähme, die bedeutenden Schriftsteller der Deutschen nach ihrem Verhältniß zu ihrer Sprache zu charakterisiren. Es lohnt sehr darauf zu achten, denn die deutsche Schriftsprache der Gegenwart steht wie die ganze Nation erst in den Anfängen ihrer modernen Entwicklung. Sie ist seit Lessing fast ausschließlich durch Gelehrte und Dichter gebildet worden, nicht übergroß ist die Zahl solcher, welche sie mit freier Kraft handhabten, noch steht sie zum Volk vornehm, spröde, oft pedantisch und arm. Durch das Feuer der öffentlichen Beredtsamkeit, durch die Grazie leichter, gesellschaftlicher

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