Die Glmlbensphilosophie.
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Der Versuch, die Form der mathematischen Lehrbücher aus die Philosophie anzuwenden, hat nicht blos aus die speculativcn Systeme selbst, sondern auch auf die Geschichtschreiber derselben einen sehr bedeutenden und nicht gerade günstigen Einfluß ausgeübt. In der Mathematik hängt jeder folgende Lehrsatz durch seine Beweise so eng mit jedem vorhergehenden zusammen, daß man die Genesis der Wissenschaft nicht gut anders vorstellen kann als in der chronologischen Folge, wie sie im Lehrbuch stehn. Man erzählt von Pascal, er habe ohne Beihilfe eines Lehrers und eines Lehrbuchs Mathematik studirt, und sei in seinen Entdeckungen bis zu Paragraph so und so des Euklid gekommen. Ob die Geschichte wahr ist, darauf kommt weniger an: sie versinnlicht nur die allgemeine Vorstellung, daß das chronologische Auffinden der mathematischen Lehrsätze ihrer logischen Reihenfolge entsprechen müsse.
Von demselben Vorurtheil ging man, namentlich seit Hegel, bei der Geschichte der Philosophie aus. Fest davon überzeugt, daß in der gescnnmten Philosophie keine wirkliche Unwahrheit, sondern immer nur eine einseitige Wahrheit vorkomme, ine auf der nächstfolgenden Stufe des philosophischen Bewußtseins ihre Ergänzung und Berichtigung fände, ließ man sich durch die scheinbaren Rückschritte nicht irren, sondern legte bei der Construction dieser Geschichte das Gesetz zu Grunde, daß jede Einseitigkeit zunächst die entgegengesetzte Einseitigkeit hervorruft und dann erst eine Vermittlung zuläßt, in welcher die beiden frühern Einseitigkeiten in doppeltem Sinn „aufgehoben." d. h. sowol widerlegt als in ihrer relativen Berechtigung anerkannt wären. Die Sache verhielt sich so, daß Hegel seine eigne Logik als den philosophischen Euklid auffaßte und von jedem Pascal nachzuweisen unternahm, bis zu welchem Paragraph derselben er in seinem Denken gekommen sei. Sehr günstig erwiesen sich für diese Methode besonders die älteren griechischen Philosophen vor Aristoteles, da von vielen derselben nur einzelne räthselhaste Kernworte
") Der erste Artikel im 1. Heft des laufenden Jahrgangs, Grenzt, oten II. 18L0,
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