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Napoleon III. und die Stimmung in Deutschland.
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thatsächlich nur aus Preußen und den Mittel- und Kleinstaaten; es ist an Ein­wohnerzahl nicht größer als Frankreich, seine Regierungen sind bitter entzweit, und wie seine politische Organisation, ist auch seine militärische höchst unvoll­ständig. Und über dem allen sehlt, so scheint es, der starke leitende Wille und eine gewaltige Menschenkrast, welche die widerstrebenden Elemente zum Besten des Ganzen untcrzuzwingen versteht.

Endlich Prcußcu selbst, der Staat unserer herzlichen Sorge und unserer Hoff­nung, ist in einer eigenthümlichen Entwickelungsperiode, welche seine Physiog­nomie gegenwärtig weder besonders imponirend, noch vorzugsweise liebenswevth macht. Die Energie und Begeisterung des preußischen Volkes hat mehr als irgend eine andere Kraft den ersten Napoleon geworfen und den Staat der Hohen- zollern aus dem Verderben zu neuem Leben erhoben; aber der Segen dieser großen Zeit kam dem übrigen Europa, ja den andern deutschen Staaten fast mehr zu Gute, als den Preußen selbst; denn jene Erhebung des preußischen Volkes, ohne Beispiel in der Geschichte neuerer Staaten, hatte für Preußen selbst eine unvermeidliche Folge: die Volkskraft war ungewöhnlich in An­spruch genommen worden, die gesammte männliche waffentüchtige Jugend in wenig wohlhabendem Lande hatte drei Jahre in blutigen Schlachten ge­kämpft, sie war decimirt, der Ueberrcst kehrte ermüdet in verarmte, ausgcsogcne Provinzen zurück. Und gerade was jcuer Bewegung die einzige Größe und Energie gab. daß die gesammte Intelligenz des Volkes unter die Fahnen ge­eilt war, das wurde nach dem Kriege verhängnißvoll. Fast bei jedem Schar­mützel, in allen Schlachten von Groß-Görschen bis Waterloo waren in den Reihen des Heeres solche gefallen, welche unter audern Verhältnissen Führer und Leiter der Volkskraft hätten werden müssen. Die Uebcrlebenden. aus ihrem bürgerlichen Beruf herausgerissen, blieben zum Theil auch nach dem Kriege bei der Fahne, zum Theil kehrten sie mit der Resignation ußd straffen Zucht, welche die Gewöhnung an militärischen Gehorsam gibt, in das Bürgerleben zurück. Die neue Organisatiou des Staates fesselte eine große Zahl in den Beamtenstand. So kam es, daß fast drei Jahrzehnte nach dem Kriege in Preußen die freie politische Intelligenz sich weniger energisch äu­ßern konnte, als selbst in kleinern Staaten. Emsig arbeitete das Volk, in den langen Friedensjahren aus seiner Armuth herauszukommen. In dem Bcamtenstand erhielt*sich noch lange Vieles von den Traditionen der großen Organisationsperiode; den meisten Seelen, welche die Zeit der Erhebung mit­gelebt hatten, schwand die Weihe der großen Jahre nicht ganz. Durch Jahr­zehnte war es der preußische Beamtenstand, welcher trotz Allem die liberale Intelligenz des Landes vertrat, häusig auch der höchsten Staatsrcgierung ver­ständige Richtung gab. Aber diese Intelligenzen, die Schön, Vincke und ihre Altersgenossen vermochten doch nicht zu verhindern, daß die fast wider-