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Alte Kirchenmusik.
Ueber den Niedel'schen Verein in Leipzig sagt der Stifter desselben: Im Mai 1854 bildete sich unter meiner Leitung ein einfaches Gesangquartett. Wenn dasselbe binnen wenigen Jahren zu einem Gesangverein von ungefähr 150 Sängerinnen und Sängern, sowie 250 nichtsingcnden Mitgliedern angewachsen ist, so glaube ich dieses schnelle Emporblühcn wol nicht allein meinen dessallfigen Bemühungen zuschreibe» zu müssen, auch nicht dem sehr hoch anzuschlagenden außerordentlichen Eifer der aktiven Mitglieder, sondern vor Allem dem Umstände, daß der Verein nach dem ersten Jahre seines Bestehens sich vorzugsweise mit der Aufführung alter Kirch cnmusik beschäftigte und dadurch eine längst bemerklich gewordene Lücke in dem sonst so reichen Musikleben Leipzigs auszufüllen versuchte. Nicht in Leipzig allein, sondern aller Orten — die vielen „Domchöre" und zahlreiche für diesen Zweck errichtete Gesangvereine beweisen es — zeigt sich eine lebhafte Theilnahme des musikalischen Publikums für ein Kunstfeld, welches mit Unrecht so lange brach gelegen und welches Jahrhunderte hindurch eine unendliche Anzahl Kunstwerke von hoher und höchster Schönheit hervorgebracht hat. Ein beinahe unversiegbarer Quell der erhebendsten geistigen Genüsse eröffnet sich hier dcmicnigcn, der nicht einseitiger Weise an dem weltlichen Theile der Tonkunst sich genügen lassen kann, mit welcher Begeisterung und Verehrung man auch die wunderbare Bereicherung desselben durch die größten Meister der neueren Zeit anerkennen muß. Die Blüthe der religiösen Tonkunst aber ist sowol der künstlerischen Bedeutung wie der Masse nach in den Chor- gesang-Cvmpositionen der letzten drei Jahrhundertc zu finden. Diesen unerschöpflichen Schatz erhabenster, wie lieblicher Musik, diese Fülle herrlichster Kunstwerke fernerhin der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, hieße den gerechten Vvrwurf der Barbarei auf sich laden. Zudem erfordert jede Kunst, so auch die Musik zu ihrem wahren Gedeihen eine gleich sorgsame Pflege nach allen wesentlichen Richtungen, soll nicht die nothwendige gegenseitige Aufcinanderwirkung der letzteren gehemmt werden und neben der Einseitigkeit auch Verflachung eintreten. Daß Leipzig vor Allem den schönen Bcrus hat, die Tonkunst in allen ihren Zweigen und Richtungen zu rcpräsentiren, werden die kunstsinnigen Bewohner dieser musikliebcnden Stadt um so weniger verkennen wollen, als sie wol wissen, daß kaum ein anderer Ort sich solchen weithingreifcnden musikalischen Einflusses rühmen kann, wie grade Leipzig mit seiner großen musikalischen Vergangenheit. Dies erkennend, hält es der Riedelschc Verein für feine fernere Aufgabe (ohne deshalb neue Kirchenmusik oder Compofltivncn anderer Gattung, namentlich selten gehörte Werke, principiell ausschließen zu wollen), nach und nach alle hervorragenden Erscheinungen der älteren Kirchenmusik vorzuführen'und die Vereinsmitglieder — aktive und inaktive — auf dem Gebiete des Chorgesanges mit den Meisterwerken aller Zeiten und Schulen vertraut zu machen.
Herausgegeben von Gustav Freytag und Julian Schmidt. Verantwortlicher Redacteur: vr. Moritz Busch Verlag von F. L. Herbia — Druck von C, E. Elbert in Leipzig,