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raktcristik seine Grenzen hat. Nichtig angelegt war. so viel wir zu beobachten Gelegenheit hatten, jeder Charakter. Zur vollständigen künstlerischen Geltung Wn das Fach von Klärchen. Gretchen. Julien (also wahrscheinlich auch Des- demona und die verwandten Rollen; Lady Macbeth haben wir nicht gesehn). Schon etwas ferner liegt ihr das Schillersche Drama, und das Lustspiel und das Salonstück bietet ihr keine Gelegenheit, ihre eigentliche tiefere Kraft zu entfalten.
Bei dieser Aufmerksamkeit sowol auf das Detail als das Ganze der Rolle haben wir zuweilen ein Mittleres vermißt, nämlich die Beachtung der Stimmung, die in jeder Scene herrscht. Zuweilen kommt es vor. daß sie einzelne Worte, einzelne Nedenwendungen stark nüancirt. was zwar dem absoluten Wortsinn nach richtig ist. auch nicht der Rolle im Ganzen widerspricht, wol aber der Färbung der bestimmten Scene, gegen welche das einzelne Gefühl in Schatten treten sollte. Als z. B. Gretchen von ihrem todten Schwesterchen "zählt, läßt sie eine Trauer hervortreten, die hier nicht Hingehort; in der Wahnsinnsscene nüancirt sie die Worte: durch das Brausen der Hölle u. s. w. »hört ich den süßen Ton" mit einer Innigkeit, die hier nicht blos gegen die reale, sondern auch gegen die künstlerische Farbe verstößt. Wir könnten noch einige Beispiele anmerken, glauben aber daran genug zu haben, um in dieser Hinsicht der von uns so hochgeehrten Künstlerin eine nochmalige Revision ihrer Rollen zu empfehlen. Seltener, aber doch einigemal begegnet uns "n anderer Fehler, daß der bürgerliche Ton. der Ton von Gretchen und Klärchen in freilich gleichgültigen Bemerkungen einer Rolle hervortrat, die diese Nuance eigentlich ausschließen sollte. Wenn wir dagegen über den Ausdruck einzelner Stellen mit ihr nicht ganz einig sind, so wollen wir dieses Urtheil nicht als maßgebend aufstellen, denn bei dem gewissenhaften Nachdenken unserer Künstlerin ist es möglich. daß wir bei einer zweiten Aufführung ihrer subjcctiven Auffassung Recht geben würden. Ein anderer Fehler, den man ihr öfters vorwirst, daß sie übertreibt, ist in dieser Allgemeinheit zu uubestimmt nnd in besondern Anwendungen, die wir zuweilen gehört haben, durchaus nnwahr. So finden wir z. B. ihr stnmmes Spiel höchst discret und maßvoll, namentlich auch in der Rolle Gretchens. wo wir andere berühmte und un. berühmte Schauspielerinnen tausend Allotria haben treiben sehn (z. B. das beliebte Spiel mit dem Putz), die hier in der bescheidensten Weise nur angedeutet wurden. Wenn man nun gar behauptet, daß sie in der freilich furchtbaren Wahnsinnsscene am Schluß zu stark aufträgt, so ist uns vollkommen Unverständlich, was man damit meint: man müßte etwa von einer Kindes- wörderin, die ihre Hinrichtung erwartet, und im Gefühl ihrer Schuld in Raserei verfallen ist. verlangen, sie solle sich gcbährden wie eine verliebte Schäferin.
Bekanntlich hat Marie Seebach für die Scene mit dem bösen Geist den