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sie verfügen kann. Stellt man sie z. B. mit einer Nachel zusammen, so steht sie dieser in mancher Beziehung nach, ihr sinniges und seelenvolles Auge hat nicht jene dämonische Kraft, die uns aus dem dunklen Auge der Nachel entgegenblitzte und uns gewissermaßen den Glauben an das Entsetzlichste ohne Anstrengung einjagte: der Versuch, mit einem bloßen Blicke eine gewaltige Herzensbewegung zu erzählen, wird von ihr nur mit äußerster Vorsicht gewagt werden dürfen. Ebenso ist es mit der Stimme. In dem tiefen Alt der Rachel hörte man schon von fern den Donner der innern Leidenschaften grollen, und wenn sie ihnen den Zügel ließ, so war kein Widerstand möglich; die ganze Erscheinung war ein Dämon geworden. Alle diese Naturwirkungen, die freilich einen außerordentlichen Zauber ausüben, darf unsere Künstlerin nur behutsam versuchen: es muß ihr, wenn wir uns so ausdrücken dürsen, wehr daran liegen den Zuschauer zu überzeugen als ihn zu überraschen. Wenn also auch nicht die ganze Zeit einer gedankenvollen Ausfassung der Kunst zustrebte, so würde unsere Künstlerin durch die Eigenthümlichkeit ihrer Naturanlagen dazu veranlaßt werden, ihren genialen Instinkt durch das Nachdenken Zu leiten.
Hier muß auf ein Mißverständniß aufmerksam gemacht werden, das uns leicht begegnet, wenn wir die entgegengesetzten Pole, die aber zu einem Wesen gehören, von einander trennen. Die Bezeichnung eines denkenden Künstlers hat gewöhnlich etwas Geringschätzendes, man pflegt darunter denjenigen zu verstehn, der die fehlende Natur durch Kunst ersetzt, wobei man vergißt, daß so etwas im eigentlichen Sinn gar nicht möglich ist. Ein denkender Künstler ^st vielmehr derjenige, der die Grenzen und den Umfang seiner Natur vollkommen kennt, die ersteren nie übertritt, und die letzteren zur vollen und harmonischen Geltung bringt. Ein denkender Künstler ist ferner derjenige, der ernsthaft in die Intentionen des Dichters eindringt und uns nicht blos die Stimmungen, sondern auch den Geist derselben zur Evidenz bringt.
U.m nun aber diese allgemeinen Sätze, die für sich betrachtet etwas Ab- stractes und daher Undeutliches haben, an einem bestimmten Beispiel zu erläutern, wählen wir die Rolle der Julia. Der zweite Theil der Nolle, der in seiner Tendenz klar genug ist, wird von unsern bessern Schauspielerinnen durchweg mehr oder minder gut wiedergegeben; von dem ersten Theil haben wir aber jetzt zum ersten Mal eine ergreisende Anschauung gehabt. Es kommt hier darauf an. dem Zuschauer die plötzliche alle Schranken überfliegende Leidenschaft der ^ulia zu erklären d. h. in sinnlicher Klarheit darzustellen. Man kann sagen, daß Shakespeare in dieser Beziehung der Darstellerin wenig oder gar nicht vorgearbei- ^ hat, und so poetisch die erste Scene sich liest, so hat sie uns bei der Aufführung urinier nur sehr wenig bewegt. Bei Marie Seebach sühlt man, wie der erste Kuß ^ ganzes Wesen im Innersten durchschauert, wie sie in der Mischung von