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Marie Seebach.
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unbefangen, denn sie hat die ältern berühmten Vorbilder vor Augen, deren Art sich durch eine lange Tradition fortgepflanzt hat, und da die Freude an der Nachahmung nicht grade zu der Signatur unsrer Zeit gehört, so fühlt die Schauspielerin von Talent sich leicht versucht, ihre Vorganger dadurch zu über­bieten, daß sie die Rollen geistreich d. h. capriciös, allenfalls auch etwas ba­rock auffaßt. Es ist ein sehr seltnes Verdienst, dieser Neigung des Zeitalters zum Subtilisiren gegenüber das starke Gefühl für Wahrheit festzuhalten, wie es bei Marie Seebach der Fall ist.

Mit den dramatischen Dichtungen gehn die Bühnen Hand in Hand; mehr und mehr verliert sich, in ihnen, was man früher Schule nannte. Wir meinen damit nicht Schule in dem idealen Sinne, wie es Eduard Devrient versteht, sondern Schule in der Weise Schröders, Jfflands, auch Goethes, trotz der einseitigen Richtung des letzern. Die Schule besteht in der Disciplin, vereine' mächtige künstlerische Persönlichkeit seine Bühne unterwirft. Lange nachdem jene drei Männer die Bühne aufgegeben hatten, wirkte ihre Schule durch ältere, tüchtige Schauspieler noch sort; sie ist jetzt, wenn nicht abgestorben, doch im schnellen Absterben begriffen; eine neue Schule ist nicht entstanden, und so hat jeder Einzelne im Nebel seinen Weg zu suchen. Das Gefühl der Achtung vor einer reifern Kunst verliert sich mehr und mehr;dem genialen Geschlecht wird es im Traum bescheert;" und immer seltner werden die Schauspieler, die auch nur die äußere Technik des Handwerks sich angeeignet haben.

Die Spitze erreicht diese Anarchie und dieser Individualismus in der Art und Weise unsrer Gastspiele. Man mag lächeln, wenn man liest, wie sorg­fältig Goethe seine Schauspieler unter Schloß und Riegel hielt, wie sie trotz ihres kläglichen Gehalts sich nicht erlauben durften, irgend wo anders auf­zutreten; aber die Heimathlosigkeit unsrer Tage ist ein noch viel ärgeres Ex­trem. Bald wird es Regel sein, daß Künstler von größerm Ruf gär kein festes Engagement mehr annehmen, daß sie nur auf den Eisenbahnen zu Hause sind, und Tag aus Tag ein aus einer Stadt in die andere sich Hetzen lassen. Für das Publicum hat das manche Annehmlichkeit, denn fast jede Mittelstadt kann nun die größten Künstler Deutschlands mit eignen Augen anschauen; der Künstler selbst kann schnell reich werden und was ihm doch das Süßeste in seiner Laufbahn ist, der unmittelbare Erfolg, der Jubel und die Begeisterung der Menge, wird ihm reichlicher und brausender zu Theil. Aber er lebt auch viel schneller als sonst, und selbst wenn seine physische Kraft einer so aufreibenden Thätigkeit widersteht, so ist er doch der schweren Versuchung ausgesetzt, durch starkes Auftragen der Farben dem fremden Publicum rasch zu imponiren, aus Mangel an jener Sammlung, die für jeden Künstler nothwendig ist, das Mechanische der Kunstmittel überwuchern zu lassen, und endlich aus dem Künstler

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