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sen darf. Es wird gesagt, das Publicum könne kein ganzes Oratorium aushalten. Das ist unbegründet. Wir haben oft genug in Halle die entgegengesetzten Erfahrungen gemacht; überdies führt die Eutcrpe öfter ganze Oratorien auf, und ich habe nie einen Menschen ungeduldig oder unzufrieden sich äußern gehört — im Gegentheil, der Saal ist nie mehr gefüllt gewesen, wie bei solchen Aufführungen vollständiger Oratorien. Dc>nn aber, vermöchte das Publicum iu der That nicht, einem ganzen oratorischen Werke zu folgen, so wäre das nur ein übles Zeichen von Vernachlässigung und Mangel an Ernst; dadurch würde man sich aber wol nicht berechtigt glauben, den festgcschlossenen Organismus eines Kunstwerkes, dessen Entwickelung und Schluß durch den Anfang, und umgekehrt, bedingt wird, zu zerreißen, und blos den Kopf, oder die Füße, oder ein Mittelstück zuzurichten und aufzutischen. Entweder ganz oder gar nicht; um bloße Feinschmeckern mit sich treiben zu lassen, hat das Oratorium zu hohe Bedeutung. Unter den zwciundzwanzig Concerten des Gewandhauses könnte man wol zwei zu classischen Oratorienaufführungen bestimmen — das Publicum würde Interesse daran gewinnen, und es nach und nach ohne Frage dankbar annehmen.
Warum gibt unsere Singakademie, deren Bestimmung es doch eigentlich ist, keine eigenen Oratorienconcerte? Eine der ablehnenden Antworten ist, daß das Gewandhausorchester, des Theaters wegen, niemals zu haben sei. Das ist wahr, aber keineswegs Grund genug, um deshalb die ganze Sache auf' zugeben; man kann sich mit geringeren Orchesterkrästen begnügen. Unsere kleineren städtischen Musikchöre, aus denen auch die Euterpe größtentheils zusammengesetzt ist. enthalten viele reckt brauchbare Musiker, die namentlich wenn sie unter öftere Leitung des Siugakademiedircctors kämen, bald vollkommen ihrem Zweck entsprechen würden. Es ist allerdings eine sast nach' theilig zu nennende Folge unsrer bis auss äußerste getriebeucn Orchestcrvirtuo- sität, daß wenigstens ein großer Theil des Publicums eigentlich mehr auf die virtuose Ausführung, wie auf das Werk selbst gibt; zwei Drittel im Publicum wenden ihre Aufmerksamkeit wenigstens ebenso viel auf die Aeußerlichkeit der Ausführung, wie auf das"Werk selbst, auf seinen idealen Inhalt und desst» Entwicklung. Ein einziger kleiner Fehler — wie ungemcin leicht, trotz der vielleicht fleißigsten Studien, von einein rein äußerlichen 'Zufall herbeigerufen wird, statt ignorirt zu werden, sorgsam beachtet, und womöglich mit dein Nachbar ein bedeutsamer Blick ausgetauscht. Würden unserm Publicum öfter große Werke ernsten, oratorischen Stiles vorgeführt (wenn auch die Ausfüh' rung nicht immer auf der glänzendsten virtuosen Höhe stünde, tüchtig könnte sie darum doch sein) — wie würde der ganze Sinn und Geist für die kirchliche Tonkunst im Volke nach und nach wieder gehoben werden! Und hieße das