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wilden Gestein, das die Burgtrümmer umgibt, Myrrhe und dustige Cyklamen wuchern, wahrend im Nordschatten sich das zierliche Venushaar am Felsen- abHange wiegt. Weiter hinab überschatten kräftige Eichen und edle Kastanien die Flanken des Gebirges, an welche sich gegen die Ebne hin endlich ein weiter Gürtel von Oliven reiht. Selbst in den kältesten Wintern pflegt auf des Berges Höhe das Thermometer nur wenig Grade unter den Gefrierpunkt zu sinken und die Kälte bei weitem nicht zu erreichen, die in der fruchtbaren Poebne nicht selten wochenlang selbst die erprobte Geduld des nordischen Reisenden erschöpft.
Ungünstiger als das der Stadt ist schon jdas Klima der hart am nordöstlichen Fuße der höchsten Felswand belegenen Vorstadt, des Borgo. Ihren Bewohnern verbirgt sich im Winter während zweier Monate die Sonne, und manches Gartengewächs, das oben in der Stadt gedeiht, kann die rauhere Lust des Borgo nicht vertragen.
Bis zum Borgo führt vom Meeresstrande, von Rimini aus, ein wohlunterhaltener Fahrweg. Von hier bis in die Stadt war noch bei meinem letzten Besuche auf einer künstlich gewundenen Straße nur zu Fuß oder zu Maulthier zu gelangen; neuerdings soll aber mit beträchtlichem Aufwand ein Fahrweg hergestellt sein. Von jeder andern Seite ist die Bergeszinne unzugänglich und, in den Schluchten der Felswand einen neuen Pfad zu suchen, bei Lebensstrafe verboten. So hat denn der dürftige Handelsverkehr des Freistaates, der zum Verkaufe kaum Anderes als Wein, grobe Schafwolle und Borstenvieh zu bieten hat, alljährlich aber nicht unbedeutende Getreidevorräthe verbraucht, sich unterhalb der Felscnspitze, im Borgo angesiedelt. Hier sehen die Häuser wohnlicher und moderner aus, als oben in der Stadt, und Schenke bei Schenke ladet zum Genuß des würzigen Muscatellerweins. Tief in die Eingeweide der Bergwand hinein erstreckt sich nämlich ein Labyrinth von Grotten, die als Felsenkeller benutzt, dem labenden Trank auch während der ärgsten Sommerglut eisige Kühle bewahren.
Von der höchsten Höhe des Berges, von der Stadt und Burg San Marino aus, umfaßt der Blick ein fast schrankenloses reiches Panorama. Auf eine Tagereise und 'weiter sehen wir gen Norden und Süden das blaue adria- tische Meer die weißen Dünen der Küsten bespülen. Weit über die Fluten hinaus aber sah ich selbst eines Tages die langen vielfach verschränkten Bergzüge Dalmatiens klar und derrtlich sich gegen den goldig glänzenden Morgen- Himmel abzeichnen. Fast zu den Füßen des Berges von San Marino breitet sich Ninnni stattlich am Meere aus und weit darüber hin, mehr als zwölf Stunden lang, erstreckt sich der wunderbare Pinienwald von Navenna. Noch jenseits schimmern die salzigen Sümpfe von Comacchio und fern im Norden glaubt das Auge Venedigs Lagunen zu errathen. Landeinwärts gegen Westen Grenzboten III. 1S58. 19