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Englands Verfassung und continentale Simmungen.
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Das Jahr 1848 kam mit seinen riesigen Umwälzungen und seinen nicht minder riesigen Hoffnungen. Die Geschichte schien zu Gunsten Frankreichs und noch mehr unsers deutschen Vaterlandes einen Sprung gemacht zu haben, wir hatten ohne Mühe erreicht oder meinten mindestens erreicht zu haben, was andern Völkern nur unter Muhen und Schmerzen geworden war: natio­nale Kraft und Einheit. Es galt nur, noch das Zauberwort zu finden, um diese großen Güter auch sür die Dauer an uns zu bannen, und eine große Versammlung berühmter deutscher Namen saß Tag und Nacht, um es festzu­setzen. In der Verfassung der deutschen Nationalversammlung wog die fran­zösische Schablone jedoch vor, und die Concessionen an bestehende Organismen waren vor allem durch die Umstände selbst aufgedrängt. Und wie in Frank­furt, so sah es in den meisten einzelnen deutschen Staaten aus, die nacheinander Verfassungen machten oder revidirten. Nur ein durchgreifender Unterschied von der französischen Art sand sich allenthalben, eine weniger scharfe Centrali­sation und weniger consequent durchgeführte Bureaukratie. Wer aber die nach 1848 eingetretenen Wandlungen im deutschen Staatsleben etwas schärfer prüft, dem wird es schwerlich entgehen, daß grade damals durch die dahin.gehöri­gen Bestimmungen ein Keim rein französischer Bureaukratie gelegt worden ist, der seitdem üppig genug aufgeschossen ist, namentlich auch im preußischen Staats- und Rechtsleben, wo allenthalben die Zügel der regierenden und der Disciplinargewalt straffer angezogen worden sind als je früher.

Einen sehr entschiedenen Beweis für das Vorwiegen französischer An­schauungen gab denn auch das innere Getriebe der parlamentarischen Thätig­keit, wie sie in Deutschland verstanden und ausgeübt wurde; ja man kann eigentlich sagen, daß sich kaum irgendwo das Bewußtsein vorfand, es könne geschäftliche Parlamentseinrichtungen geben, die auf anderen als der bekann­ten französischen Grundlage ausgebaut wären. Und doch unterscheidet sich die französische Parlamentskunst von der englischen vor allem dadurch, daß die letztere mit einer äußerst gründlichen Berücksichtigung der Ansichten und Rechte einer Minderheit zu Werke geht, während erstere davon eigentlich gar keine Ahnung zu haben scheint.

Es war sehr begreiflich, daß grade in jenen Tagen die Achtung vor dem englischen Staatsleben in Deutschland wieder einmal abnahm; hatte die eigne innere Entwicklung doch so große Fortschritte gemacht! Durch den Gang der eignen Geschichte sollte aber dieser Mißcredit vollendet werden. DerParla­mentarismus" war ja Schuld an dem unheilvollen Ausgang der deutschen Bewegung, und wo war derselbe reiner verkörpert als in der englischen Ver­fassung? Es ist in jener Zeit sehr viel Unverdautes über parlamentarische Ein­richtungen geschrieben worden, ohne daß sreilich deren Gegner in nur einiger­maßen verständlicher Weise anzugeben wußten, wie ein freier und großer