1K3
bei vielen Werken Goethes der Fall, wo das Einzelne uns so gewaltig ergreift, daß wir an die Komposition gar nicht denken, oder uns den Gedanken leicht aus dem Sinn schlagen.
Eine mächtige Natur ist Stifter nicht, er zwingt uns nicht, ihm zu solgen; aber er ist eine seelenvolle und bedeutende Natur, und wenn wir dem Widerstreben unserer Einbildungskraft Gewalt anthun, und ihm wirklich folgen, so werden wir reich belohnt. Seine Fehler sind so handgreiflich, und werden durch die herrschende Richtung der Zeit so wenig motivirt, daß sie zuerst jeden Leser als etwas Unerhörtes, Seltsames überraschen; bei einigem Nachdenken aber findet man den Grund in einer an sich völlig gerechtfertigten Reaction gegen gewisse Verkehrtheiten des Zeitalters, und so hat man schließlich das beruhigende Gefühl, genetisch zu begreifen, was man künstlerisch nicht billigen kann.
Ein Anhaltpunkt für das Verständniß Stifters ergibt sich zunächst, wenn man verwandte Erscheinungen aus der frühern Literatur damit vergleicht. Solche sind Goethes Meister, namentlich die Wanderjahre, Novalis Osterdingen und Tiecks Novellen, hauptsächlich der junge Tischlermeister. Die Aufgabe dieser Dichter, in der Stifter mit ihnen wetteifert, ist, das Leben in seiner Totalität poetisch zu verklären, das Symbol des Ewigen nicht in einer einzelnen Geschichte, sondern in der Ausmalung der Zustände wie sie sein sollten und sein könnten, zu realisiren. Die Sittlichkeit des Privatlebens, die Erziehung, die Anstalten zum angenehmern Genuß des Lebens und zu einer zweckmüßigen Ausfüllung desselben. Kunst. Wissenschaft und alles, was dazu gehört, das ist der große Gegenstand, den Stifter zum Vorwurs seines Gemäldes macht, und für den die Geschichte nur den gleichgiltigen Nahmen bildet.
Die Aufgabe ist so unbegrenzt, daß sie sich überhaupt nicht durchführen läßt, am wenigsten auf künstlerischem Wege, allein wir sind durch die socialen Romane unsrer vorwiegend kritischen Zeit bereits so daran gewöhnt, daß sie uns nicht weiter befremdet. Das Auffallende liegt bei Stifter nicht in der Kritik an sich, sondern in der Richtung der Kritik, die dem Zeitgeist durchaus widerspricht. Man fragt nun vor allem, ob' der Dichter, abgesehn von der künstlerischen Berechtigung des Problems, durch seine Bildung und Einsicht dazu berufen ist, über solche Dinge überhaupt eine Stimme abzugeben. Es haben so viele Unberufene in diesem Geschäft gearbeitet, daß man jeden neuen Versuch einer Reflexion über das Leben überhaupt, mit dem Vorgefühl in die Hand nimmt, eine Sottise darin zu finden. Hier ^ird man nun bei Stifter sehr angenehm überrascht. Manche seiner Ideen sind sehr anfechtbar, und es fehlt ihnen durchweg die jugendliche Frische, die dem Leser den rechten Lebensmuth einflößt, aber er sagt nichts, worüber er nicht reiflich nachgedacht hat, und seine Bildung ist nicht blos höchst vielseitig,
21*