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— Die wichtigste Frage, welche die Philosophie der Geschichte zu lösen hat, ist die Frage nach dem wahren Inhalt des Christenthums; aber sie wird nur dann die Wissenschaft fördern, wenn sie sich vollkommen deutlich macht, wo die Grenze zwischen dem, was sie erklären kann, aufhört. Auch wenn der Gescbichtschreiber von der Neberzeugung ausgeht, in der Thatsache des Christenthums sei etwas Uebernatürliches, so wird er doch auch eine natürliche Seite auffinden können, und diese wird für seinen Zweck die ungleich wichtigere sein. Wie man über das Wunder denkt, daß Christus mit fünf Broten fünftausend Mann gespeist hat, ist für die Philosophie der Geschichte ziemlich gleichgiltig; dagegen gibt es ein weit größeres Wunder, auf das sie nothwendig eingehn muß: das Wunder der Annahme des Christenthums durch das römische Reich. Zur Erklärung dieses Wunders wird das gewöhnliche historische Material in keiner Weise ausreichen, denn die Quellen geben uns nur einzelne Blicke in ein Labyrinth, dessen Ganzes uns völlig dunkel ist. Hier muß nun eine Einsicht in den menschlichen Geist im Allgemeinen, in das Wesen der Religion und in den sittlichen Zustand der römischen Welt, der eines Heils, wie es das Christenthum verkündigte, bedürftig war, und es daher provocirte, das Quellenstudium ergänzen. Rückert versteht die Bedeutung dieses Problems sehr wohl. Das hat er schon bei seinem frühern Werk, der deutschen Kulturgeschichte gezeigt, wo er freilich der Hypothese einen zu großen Spielraum läßt. Aber er hat sich dies Mal entweder die Sache zu leicht gemacht, oder er ist nicht ganz unbefangen gewesen. Als Beleg führen wir die Hauptstelle selber an. „Es gibt nichts, was sich leichter begreifen ließe als die geschichtliche Laufbahn Christi in der Mitte seines eignen Volkes, wenn man sie nur vom jüdischen Standpunkte auS betrachtet; es gibt aber auch nichts, was dem menschlichen Geiste ewig unbegreiflicher bleiben muß, als diese geschichtliche Thätigkeit Christi, sobald man sie in ihrer allgemein menschlichen Bedeutung saßt. Denn in dieser ist sie die eigentliche Erfüllung des Zieles aller Geschichte, oder der menschlichen Entwicklung überhaupt, die völlige Versöhnung deö Zwiespaltes in dem menschlichen Dasein, von welchem überhaupt das Dasein einer geschichtlichen Entwicklung bedingt wird, die völlige Aufhebuug der Gegensätze, Nothwendigkeit und Freiheit innerhalb und außerhalb des Subjectes, die völlige Zurücksührung des Menschen auf seinen Naturzustand, ehe er mit dem Bewußtsein des Zwiespaltes oder der Sünde in die Geschichte eintrat, und die völlige Vernichtung aller und jeder Gewalt, welche die Natur über den Menschen hat. Das menschliche Dasein ist in der Wirklichkeit der Person Christi ebensowol reiner und absoluter Geist oder Begriff geworden, wie es in ihm reine und absolute Natur ist und die Gegensätze zwischen Aeußerem und Innerem, Geist und Natur sind in ihm ebenso vollständig ausgehoben, wie sie in ihm ihre vollständigste