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Berufnen wie von Unberufnen. Denn eine Periode philosophischer Producti- vität hat ihr Kennzeichen nicht blos darin, daß sich eine ungewöhnliche Zahl begabter Männer vorfindet, die für diese Richtung ebensoviel Talent als Neigung mitbringen, sondern auch darin, daß alle Welt sich in gutem Glauben ihren Eingebungen überläßt, fest davon überzeugt, daß dem Muthigen die Welt gehört. Es gehört eine ganz außerordentliche Unbefangenheit des Denkens dazu, nicht blos für die Schüler, sondern auch für die Lehrer, um auf die Weise zu speculiren, wie zu Anfang dieses Jahrhunderts in Deutschland spe- culirt wurde. Es erweckt in unS einen gewissen Neid, wenn wir z. B. in Fichtes Schriften psychologisch dem Gedankengang dieses nicht blos ehrlichen, sondern auch wissenschaftlich hochgebildeten ManneS folgen und die Kühnheit der Gedankensprünge ermessen, die dazu gehört, ein solches System zu Stande zu bringen. Es ist nicht grade ein Uebermaß von Klugheit, das uns heute vor ähnlichen Deductionen bewahrt, vielmehr ein Mißtrauen gegen unsere eignen Gedanken, das mir einem gewissen Gefühl von Schwäche verbunden ist.
Wenn daher die Materialisten und Empiriker jeder Gattung in diesem Augenblick über die Niederlage der Philosophie einen Triumphgesang anstimmen, so sollten sie doch erst genauer ihre eigne Thätigkeit untersuchen, ob sie nicht die nämlichen Sünden begehen, wie ihre Vorgänger, und mit einer viel geringern Berechtigung. Denn der alte Spruch des Cartesius, der aus dem Denken das Sein herleitet, besteht noch immer in voller Kraft, und nirgend zeigt sich das so lebhaft, als in dem wissenschaftlichen Treiben, das mit dem niedrigsten Handwerk zusammenfällt, wenn es nicht vom Denken > ausgeht, und vom Denken unablässig geleitet wird. Wissenschaftliches und methodisches Denken sagt aber das Nämliche, und ein methodisches Denken findet nur dann statt, wenn man sich der Methode bewußt wird d. h. wenn man philo- sophirt. Ohne Philosophie gibt es auf die Dauer keine Wissenschaft; eine Behauptung, die gewiß weniger Anfechtungen unterworfen ist, als die andre, daß es ohne Religion keine Moral gibt. Die Kunst kaun bestehen, ohne daß der Künstler über die Art und Weise, wie er schafft, Reflexionen anstellt; die Wissenschaft kann es nicht, und ein Zeitalter, welches einen so überwiegend wissenschaftlichen Charakter hat, wie daö unsrige, muß nothwendigerweise wieder zur Philosophie zurückkehren. Freilich wird die neue Philosophie sich hüten müssen, in die Fehler der alten zu verfallen, weil sonst wiederum die Gefahr eintritt, daß ein scheinbar rascher Sieg in dem nächsten Augenblick wieder verloren geht, und daß man mit Erstaunen wahrnimmt, man habe nur mit Schatten gekämpft.
Unter vielen andern Fehlern, welche die deutsche Philosophie namentlich in der Zeit Fichtes, Schellings und Hegels begangen hat, treten am auffallendsten zwei hervor.