293
eines ganzen Lebens, welches auch das kleinste Zeugniß aufspürt, um sich von dem Nervengeflecht dieser Gedanken und Leidenschaften eine Vorstellung zu machen, kann dem Gemälde den objectiven realistischen Charakter geben. Noch ist die Zeit nicht gekommen, denn noch sind wir alle viel zu tief in den Kampf der Gegensätze verstrickt, um uns unbefangen diese historische Macht zu versinnlichen; wir müssen schon zufrieden sein, wenn eine glückliche Eingebung wenigstens auf einzelne Züge jenes riesenhaften Gemäldes eür überraschendes Schlaglicht wirft.
Zur Naturgeschichte des Volks.
Die Geschichte der Gesellschaft in ihren neuern Entwicklungen und Problemen. Von Theodor Mundt. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig. Voigt und Günther. —
Wir haben vor einigen Wochen die bürgerliche Gesellschaft von Riehl besprochen. Das gegenwärtige Werk, dessen erste Ausgabe 18ii erschien, läßt sich als ein Vorläufer derselben betrachten, wenn auch zwischen den politischen Ueberzeugungen der Verfasser anscheinend eine weite Kluft liegt. Riehl neigt sich der äußersten Reaction, Mundt dem Radicalismus zu; aber sie haben das Gemeinsame, daß sie die Begriffe Staat und Gesellschaft voneinander trennen, und daß ihnen die Verbesserung der Gesellschaft wichtiger erscheint, als die Verbesserung deS Staats. Keiner von beiden geht von einer positiven festen Ueberzeugung aus, sie tasten mehr an den Problemen herum, als daß sie eine Lösung versuchten. Bei Riehl überwiegt die historische, bei Mnndt die philosophische Bildung. Jener geht von dem deutschen Leben, dieser vorzugsweise von der französischen Bildung auö. Jener sucht in der Vergangenheit alles dasjenige zusammen, woraus sich eine Bild fester, geschlossener und gesicherter Zustände gewinnen läßt, dieser zieht die innern Wirrnisse ans Licht, die auch in jenen Zeiten nicht fehlten. Riehl ist im Wesentlichen ein Feind der Industrie und des Bürgerthums im modernen Sinne, Mundt ein Apologet desselben.
„Der Reichthum, welcher als ein neues Privilegium hier, zuerst in der Geschichte sich hervorhebt, er hat jetzt wesentlich eine andre Gestalt, als in der alten Zeit, wo er vorzugsweise als das historisch überlieferte Eigenthum der bevorrechteten Classen erscheint. In der neuen Zeit dagegen ist der Reichthum die flüssige und bewegliche Macht des Tages geworden, er strömt aus den geöffneten Quellen deö'freien Lebens selbst auf allen ihm beliebigen Punkten hervor, und indem er durch den Erwerb, der das Eigenthum heute so beweglich