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den Worten eröffnet: „Eins war Europa in den großen Zeiten des Ritter- thumS u. s. w.", so vergißt er dabei, daß das von jeder Periode gilt, sobald sie nur die Kraft hat, sich zu einer energischen Blüte zusammenzufassen. Er vergißt ferner, daß trotz der Harmonie in der Erscheinung doch im Wesen selbst, wie in jeder Periode, so auch in der Periode des RitterthumS ein starker Widerspruch erhalten war, den man mit einem geläufigen Parteinamen jener Zeit als die welfisch- und ghibellinische Bildung bezeichnen kann. Das Papstthum und das Kaiserthum waren die beiden höchsten politischen Blüten jener Periode; als die eine derselben der andern unterlegen war, war das Lebensprincip der Periode erstickt.
Das nächste Zeitalter IM die Signatur der classischen Bildung. Gewöhnlich bezeichnet man mit dem Ausdruck Renaissance ein etwas späteres Zeitalter, wobei man sich hauptsächlich auf die Entwicklung der Baukunst, der Kleidertracht und andre äußerliche Erscheinungen bezieht. Aber die Wiedergeburt beginnt schon gegen das Ende des 13. Jahrhunderts, ja sie ist in ihrem innersten Kern die Wiederausnahme deS Ghibellinenthumö, das^ in der Politik zu Boden geschlagen, sich auf die Literatur und Kunst warf. Es hat eine/symbolische Bedeutung, daß der große Erneuerer der Kunstpoesie, der Schüler Virgils, zugleich ein leidenschaftlicher Ghibelline war. Die Kirche hatte gesiegt, aber wie in der frühern Periode die stegreichen Barbaren der Cultur des Römerthums unterlagen, so nahm die Kirche die Bildung ihrer Gegner an. Leo X. war der höchste Gipfel, aber keineswegs der Beginn dieser Verweltlichung. Die Literatur und die Kunst gingen mit der Sitte Hand in Hand. Macchiavell sprach unumwunden die Grundsätze aus, die im Stillen jedermann hegte, die aber freilich dem folgenden Zeitalter so fremd geworden waren, daß man sich vergeblich darüber den Kopf zerbrach, waö er sich dabei gedacht haben könne. In den äußern Formen war ja die Kirche noch allgemein herrschend; die Kunst und Wissenschaft dienten nur zu ihrer Verherrlichung. Aber freilich wird die Sache begreiflich, wenn man neben die sirtini- sche Madonna etwa die Leda und die Jo von Correggio hängt, wenn man Tasso mit Aretin, Pulci und Arivst zusammenstellt, wenn man steht, ^vie in Ca- moens die holdselige heidnische VenuS als Beschützerin des Kreuzes gefeiert wird. Das wiederauflebende Alterthum rächte sich an den siegreichen Barbaren durch einen bittern Spott, der sich in den höchsten Kunstformen entwickelte, und wie verschiedenen Gebieten auch der Ciceronianismuö des Erasmus und der Don Quirote des Cervantes angehören ^ sie drücken doch denselben Geist aus, der sich einfach und unbefangen im Fürsten, mystisch und mit der Anlage zur Schwärmerei in Cardanus und seinen Nachfolgern entfaltet. Wenn man noch dazu nimmt, daß die Entdeckung der neuen Welt, so wie das kopernicanische System mit den Ausläufern der Periode zusammenfällt, so wird man zugeben,