327
die Jahrelang das Hab und Gut des Odysseus aufzehrten, fanden wol Mißbilligung in Jthaka, aber so stark war die öffentliche Meinung durchaus nicht, daß sie diesem schreienden Unrecht im mindesten Schranken gesetzt hätte. Waisen waren im hohen Grade hilf- und schutzlos, ihre Jugend war traurig und ihr Eigenthum der Willkür des Stärkern anheimgegeben. Die einzige Spur des Völkerrechts in jener Zeit ist die Unverletzlichkeit der Herolde, die Botschaften auch zwischen Stämmen, die einander bekriegten, hin und her trugen.
So waren die sittlichen Zustände des homerischen Zeitalters. Lebensweise und Beschäftigung war natürlich vielmehr eine ländliche als städtische ; Ackerbau und Viehzucht die Haupterwerbsmittcl, Handwerke wenig, Handel so gut als gar nicht. Da selbst die Edlen nicht verschmähten, die zum Haushalt nöthige Arbeit selbst zu verrichten, da sie überdies zahlreiche Sklaven besaßen, die dazu geschickt waren, und» die Fürstinnen die Kleider für Männer und Söhne selbst spannen, webten, stickten und wuschen, so konnte ein eigentlicher Handwerkerstand nicht entstehen. Doch da nicht alles von dem Hausherrn und den Hausgenossen selbst gearbeitet werden konnte, so mußte man mitunter auch Handwerker ins HauS rusen, die man „Volksarbeiter" nannte. Es waren besonders der Schmied, Lederarbeiter, Töpfer, Wagner, Maurer, Zimmermann und Baumeister, die bei der allgemeinen Nachfrage nach ihrer Arbeit von ihrer Kunst leben konnten; und zu diesen „Volköarbeitern" rechnete die homerische Zeit auch den Arzt, Propheten und Sänger. Zwar auch in der Arzneikunde, die sich wol auf Heilung von Wunden (auch durch Beschwörungen) beschränkte, waren die Edeln nicht unerfahren; aber doch waren die eigentlichen Aerzte sehr geschätzt und gesucht, und galten namentlich im Kriege viel. Auch die Sänger, die bei den Gastmählern der Könige regelmäßige Gäste waren und die Anwesenden durch Gesang und Saitenspiel erfreuten, waren hochgeehrt. Sie sangen Lieder von den Thaten der Götter und Menschen, vermuthlich recitativisch, und begleiteten sich mit Griffen in die Saiten der Cither. Auch bei andern festlichen Veranlassungen fehlte es nicht an Gesang und Spiel. Die Gabe der Prophezeihung war nicht selten, sei eS, daß der Prophet in plötzlicher ekstatischer Begeisterung verkündete, was ein Gott ihm eingab, sei es, daß er verstand, die Zukunft aus Zeichen zu deuten, die dem gewöhnlichen Sinn unverständlich blieben, als Himmelöerscheinungen, Vögelflug und Träume. UebrigenS waren die Orakel von Dodona und Delphi schon berühmt, und aller Wahrscheinlichkeit nach kannte man auch Todten- orakel.
Die homerischen Griechen waren, wie gesagt, bereits eine seßhafte, ackerbautreibende Bevölkerung, keine umherschweifenden Nomaden oder Jäger. Wol jagten die Edeln im Bergwalde, aber mehr um Muth, Kraft und Schnelligkeit zu erproben, als um der Beute willen, besonders Eber und Löwen. Die zahl-