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von den stattlichen Dörfern und fern von der reichen Stadt Tilse (Tilsit) noch alle ihre Einwohner in der ursprünglichen Nationalität bewahrte — hier finden wir Innigkeit der Familienbande, Liebe zur Natur, Empfänglichkeit für die kleinen Reize des Lebens in einer oft rührenden Weise.
Suchen wir zu diesem Zweck ein entlegenes GeHost auf, einen Abbau, ein Ausgebautes, wie man in Ostpreußen solche von den Dörfern abgesonderte Höfe zu bezeichnen pflegt. Man wird den Weg dahin genau angeben müssen; denn durch Palven (Haideland) und Torfmoor, Gehölze und Sichrenfelder führen zu dem waldversteckten Häuschen verschlungene Pfade. Aber nur an so entlegenen Orten können wir sicher sein, daS Leben der Lithauer noch in seiner unverfälschten Ursprünglichkeit anzutreffen.
Selten finden wir eine elende Hütte, die über unserm Haupte den Einsturz droht, sobald wir die Schwelle mit dem Fuße berühren. In der Regel gelangen wir durch die hölzernen, strohgedeckten, oft in kleinem Maßstabe gebauten Nebengebäude zu dem Wohnhause, das von ihnen mit einem nicht gar geräumigen Hof umschlossen wird. Es ist ein sauberes, wie die Nebengebäude hölzernes, mit einem Strohdachc versehenes Gebäude, fest in seinen Fugen, die Wände in der Farbe des verwitternden Holzes schimmernd, von der weißen Tünche moderner Cultur nie berührt. Die einzige Verzierung des Hauses gewahren wir an den Fensterläden, die mit Lilienstengcln und Tulpen grün, weiß und roth recht lebhaft bemalt sind.
Um das Familienleben der Hütte in seinem charakteristischen Reize zu beobachten, haben wir den Abend gewählt; denn er hat auö Wald und Acker, auS Städtchen und Nachbarschaft Vater und Mutter, Braut und Bräutigam, Buben und Mädchen um des Herdes heiliges Feuer versammelt: wir hören schon bei unsrer Annäherung Lieder, wie Vogellicder, mit unerwarteten Aufsteigungen, mit plötzlichen Abfällen, mit schnell aufeinanderfolgeuden Schlagtönen, mir jenen sanften Verschwebungen des Tones, wie sie der Musik deS Volksliedes überhaupt, vorzugsweise dem Volkslied der slawisch-finnischen Stämme eigenthümlich ist. Diese Musik spottet allen künstlerischen Bestrebungen, sie in ihren Melodien festzuhalten; der Musiker soll noch gesunden werden, der mit all seiner musikalischen Empfänglichkeit, harmonischen Kenntniß, Kunst der Instrumentation diese seelenvollen, einfachen, aber ebenso sonderbaren, flüchtigen Töne ohne bedeutende Einbuße ihrer originalen Naivetät wiederzugeben vermöchte. Nach den von Nesselmann als Anhang zu seiner Bearbeitung und Uebersetzuug lithauischer Volkslieder mitgetheilten Melodien hat ein königsberger Musiker wenigstens den Versuch gemacht, einige dieser Dainos für mehrstimmigen Gesang einzurichten. Der Beifall, den er dadurch eingeerntet hat, lohnt immerhin sein Bestreben, nicht sein Gelingen. Und warum sollten wir auch so sehnlich wünschen, diese eigenthümliche Musik in
Grnizbvte». I. 1836. z-j