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Musikalischer Jahresbericht aus Berlin.
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Bachs Gesangmusik fordert, zumal bei der heutigen Orchesterstünmung, eigens eingerichtete Stimmorgane; wer nicht ganz darin lebt, kann sich nicht heimisch fühlen. Die Aufführung des Tod Jesu von Graun war die hundertjährige Jubilarfeier des Werkes. Es wird viel gegen die Cantate und gegen das zähe Festhalten vieler norddeutschen Städte an derselben geeifert; man wirft mit Recht den Arien einen opernartigen Stil, dem Ganzen Weichlichkeit und Sentimentalität vor; dennoch können wir mit dem Puritanismuö, der das Werk womöglich ganz verdrängen möchte, nicht gemeinsame Sache machen, schon darum nicht, weil wir Ehrfurcht vor dem haben, was sich geschichtlich als volksthümlich und national erwiesen hat, weil die ein Jahrhundert hin­durch sich bewährende öffentliche Meinung den subjectiven Geschmacksrichtungen gegenüber ihr volles Recht hat. Für Norddeutschland, namentlich für den östlichen Theil, ist der Tod Jesu ein wahres Volkswerk geworden. Er verwächst mit den Gemüthern fast in ähnlicher Weise, wie unsere protestantischen Choräle, und es ist nicht blos das jährliche Hören, was das Werk denen, die sich nur ausnahmsweise mit Musik beschäftigen, so lieb macht; es liegt auch in dem Stil etwas der allgemeinen, volkstümlichen Bildung Entsprechendes. Die berliner Zeitungen, namentlich die Spenersche, brachten bei Gelegenheit der Säcularseier ausführliche Berichte über die erste Verbreitung des Tod Jesu. Man steht daraus, daß sofort nach Beendigung des siebenjährigen Krieges die jährlichen Aufführungen desselben begannen und daß Magdeburg und an­dere norddeutsche Städte dem von Berlin gegebenen Beispiel in kurzem folgten. Graun bildete zu seiner Zeit eine Art Mittelglied zwischen dem ernsten deut­schen polyphonen Stil und dem italienischen Geschmack für fließenden Gesang; er befriedigte die Musiker durch seine reine und mannigfaltige Harmonie, die große Menge durch seine milde Frömmigkeit, die erwähnte Aristokratie durch seine gesangvolle Schreibart, deren er unter den Deutschen nächst Hasse wol vorzugsweise Meister war. Es ist Unrecht, in der Musik immer nur das Neueste zu begünstigen. Die Gegenwart beginnt dies gut zu machen, Sie sucht die älteste Kirchenmusik aus der Vergessenheit heraus; Italienisches und Deutsches, Katholisches und Protestantisches wird aufs neue lebendig. Man wird, wie wir hoffen, darin fortfahren und das Beste aus der Geschichte der Oper vor Gluck ebenfalls hervorsuchen; man wird, wie es scheint, auch den Jnstrumentalwerken des vorigen Jahrhunderts erneute Aufmerksamkeit zu­wenden, schon um die Entwicklung der Formen, namentlich der Sonatenform, genauer kennen zu lernen und ein noch tieferes, innigeres Verständniß der­selben zu gewinnen.

Neu für Berlin war daS große Requiem von Cherubini. Das Publicum blieb ziemlich theilnahmlos diesem phanlasiereichen Werke gegenüber, die Kritik war aber um so enthusiastischer gestimmt, als es ihr selten begegnet, in so