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Ludwig Tieck in seinen Jugendwerken.
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haftigkeit seiner Phantasie so groß, daß alle mit fortgerissen werden.Das Tollste bei der Tollheit ist, daß sie vernünftige Menschen ansteckt." An sich ist dieses Motiv nicht undramatisch, denn in dem, was man doppeltes Gesicht oder Ahnung nennt, liegt bei einer Natur, die mehr in der Phantasie und im grübelnden Gefühl lebt, als in der praktischen Welt, keine poetische Un­wahrheit und wenn der Philosoph dieses irrationelle Moment auflösen müßte, so ist es dem Dichter erlaubt, es in seiner unausgelöstcn Gestalt anzuwenden, wie ja Shakespeare so häufig psychologische Thatsachen in sinnliche Erschei­nungen und Wunder krystallisirt. Allein Tieck hat es dadurch verdorben, daß er die Natur Simons aus der dramatischen Färbung des Stücks heraus­treten läßt. Simon ist melancholisch geworden durch Vorausnahme des trans­scendentalen Idealismus; er reflectirt über Ich und Nicht-Ich, Sein und Nicht­sein, Raum und Zeit u. s. w. auf dieselbe Weise, wie Aristophaneö seinen So- krates reflectiren läßt, d. h. durchaus possenhaft, mit unzweckmäßiger Anwendung der Speculation auf endliche, dem gemeinen Leben angehörige Gegenstände. So macht er auf uns den Eindruck einer parodischen, dem Lustspiel angehörigen Figur und wir gerathen außer Fassung, als aus ihm plötzlich ein tragisches Motiv genommen werden soll. Der Dichter hat geflissentlich seinen eignen Zwecken zuwider gearbeitet. Dieser Mangel an dramatischer Einsicht zeigt sich ebenso in der Nachlässigkeit der Composilioii, in der Einmischung von Episoden, die nicht nur aus dem Zusammenhang des Stücks heraustreten, sondern die auch an sich sehr langweilig sind. Außerdem sind die Shakespeareschen Clowns in einer noch übertriebenen Gestalt gleichfalls eingeführt: Figuren, die sich bei Shakespeare aus den Gewohnheiten und dem Geschmack der Zeit erklären, die sich aber auf unserm Theater nur durch glänzendere Eingebungen recht­fertigen können, als es hier der Fall ist, und die man hier um so eher ent­behren könnte, da sich die Mehrzahl der ernsthaften Personen gleichfalls närrisch benimmt.

Tieck hat im spätern Alter versichert, er habe seine Stücke für die Auffüh­rung berechnet; aber das schreibt sich erst aus einer Zeit her, wo man den Be­griff eines mit den Vorstellungen des Volks zusammenhängenden Theaters voll­ständig verloren hatte, wo der Faust, der Götz, der SommernachtStraum, die Antigone und Medea, die Caldervnschen Stücke, mit oder ohne Musik, neben Joco dem brasilianischen Affen und dem Hund des Aubry ungenirt über die deutsche Bühne gingen, wo durch die Oper die Einbildungskrast auf das gründlichste demoralisirt war und wo Goethe sich im Gespräch mit Eckermann behaglich über die Vorstellung ausließ, den zweiten Theil seines Faust auf dem Theater zu sehen und sich namentlich auf die schöne Gruppe freute, deren Mittelpunkt der Elephant, auf dem Plutus reitet, bilden sollte. Bei einer solchen Stimmung der Phantasie war es wol begreiflich, daß man der Ab-