Wilhelm Meister im Verhältniß zu unsrer Zeit.
Von allen Werken Goethe's hat, wenn wir die lyrischen Gedichte aus- nehmen, keines einen so unmittelbaren Einfluß auf die deutsche Literatur ausgeübt, als der Wilhelm Meister. Seiue Dramen sind angestaunt und in Beziehung auf die einzelnen darin enthaltenen Gedanken und Empfindungen auch wol in die Herzen aufgenommen worden, aber eigentliche Nachbildungen haben sie wenig hervorgerufen. Wilhelm Meister dagegen ist das Vorbild fast der gesammten Romanliteratur, uud wenn wir es uns genau versinnlichen wollen, wie die neuere Zeit von unserer classischen Dichtungsperiode abweicht, so gewährt dieser Roman den angemessensten Haltpunkt.
In früherer Zeit, wo man den sittlichen Gesetzen arglos gegenüberstand, harte man im Roman nichts weniger gesucht, als eine Schilderung deS wirklichen Lebens; man dachte sich vielmehr wie im Märchen eine eigne poetische Welt aus, verliebte Schäfer, Ritler, Räuber, Wilde, oder was sonst der Zeitgeschmack mit sich brachte. Seitdem man aber anfing, über das Verhältniß der innern zur äußern Welt zu reflectiren, stieß das Gefühl, das sich nun zuerst in seiner Berechtigung begriff und gewissermaßen anstaunte, überall ans Schranken, die es einengten, auf Herkommen, Vorurtheile, sittliche Ueberlieferungen und Gesetze. Bald gewann es den Muth, die Giltigkeit derselben in Frage zu stellen, und benutzte den Roman zur Kritik des wirklichen Lebens.
Wie sich die Kunst überall einer im Volk bereits vorhandenen Neigung anschließt, so entlehnte auch der deutsche Roman das leitende Motiv aus der pietistische» Schönseeligkeit, welche damals der letzte Nest der in allen ihren größer» Erscheinungen verkümmerten Religiosität war. Die Empfindsamkeit, die in der Wertherperiode den Leitton bildet, war nichts Anderes als der auf wellliche Dinge augewandte Pietismus. In diese Richtung gehören noch die Bekenntnisse einer schönen Seele, die Goethe nach seiner Art aus irgend einer wunderlichen Laune dem Wilhelm Meister einverleibte. Nie wird man die Kunst dieser wunderbar reizenden Darstellung zu hoch anschlagen können. Der Dichter stellt ohne weiteren persönlichen Antheil, als den der Neugierde eines Naturforschers bei einer außergewöhnlichen Erscheinung, die seltsamen Be- Grenzboten. Il- ->8öö. ^ 56