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sinn offenbare. Einer unsrer größten Dichter, Schiller, .hat mit scheußlichen Gedichten und mit Trauerspielen debutirt, iu denen unzweifelhaft das Scheußliche bei weitem das Poetische überwog; und daraus hat man das Gesetz herzuleiten geglaubt, daß in jedem Dichter, der mit scheußlichen Liedern und Trauerspielen debutirt, ein zweiter Schiller verborgen sei, und daß daher jeder Kritiker, der diese verborgene Göttlichkeit nicht herauswitterte, eine Sünde gegen den heiligen Geist der Poesie begehe. Wir wollen nicht erst darauf zurückgehen, daß nicht jeder deutsche Dichter die Kinderkrankheiten hat durchmachen müssen, daß z. B. Goethe in seinen beiden Erstlingsstückcn: „Gotz" und „Werther" zwei Dichtungen geschaffen hat, die in classischer Vollendung seinen besten Werken zur Seite stehen. Jedenfalls beweisen die Kinderkrankheiten, wenn sie auch bei starken Naturen vorkommen, doch an sich noch nicht die Stärke der Natur. -— Wenn Alfred Meißner mit seiner heutigen Bildung einmal unbefangen seine früheren Gedichte ansieht, so wird er sich selbst sagen müssen, daß ihr innerer Werth lange nicht dem. Ruf entspricht, den ihnen die damalige Mode und Stimmung zutheilte. Wenn seine spätern dramatischen Versuche das umgekehrte Schicksal hatten, wenn man das sehr bedeutende Talent, das sich in ihnen aussprach, verkannte, so muß er das als eine natürliche Reaction annehmen, die bei seinem natürlichen, lebhaften Trieb, sich immer weiter fortzubilden, nur heilsam auf ihn wirken kantl. Doch wäre es zweckmäßig, wenn er diese Fortbildung noch nach einer andern Seite hin versuchte, als bisher. Zwar wird er auch in technischer Beziehung noch sehr viel lernen können, indeß darin hat er in seinen beiden Dramen bereits recht viel geleistet; er weiß vollkommen, wie man eine Begebenheit dramatisch erponiren, wie man das Publicum zum Verständniß bringen und in Spannung erhalten soll, aber es fehlt ihm noch an einem wirklichen Inhalt. Er kennt die Mcnschen, er kennt den sittlichen Ernst der Gesellschaft noch nicht. Leider fällt die Jugend Meißners in eine Zeit, wo die sogenannte Genialität über Dichter wie Schiller und Goethe, namentlich über den erstem, weit hinaus gekommen zu sein glaubte. Möge er jetzt einmal die Schillerschen Dramen nur von dieser Seite betrachten: eine wie tiefe. Intuition des wirklichen Lebens sich in ihnen offenbart, mit wie großen Zügen er den sittlichen Inhalt desselben ausfaßt. Man hat von Schiller immer nur einzelne gereimte Stichwörter im Kopf, die uns jetzt trivial klingen, weil sämmtliche Spatzen deS deutschen Dichterwaldes ihm nachgesungen haben. Aber man lasse einmal diese wohlklingenden Phrasen beiseite und gehe auf seinen wirklichen Inhalt ein, und man wird von immer größerer Bewunderung durchdrungen werden. Noch weit mehr ist das bei Goethe der Fall. Der Grund davon liegt nicht blos in der Genialität dieser beiden Männer, sondern in dem Ernst und in der Gründlichkeit ihrer Arbeit. Die heutigen Dichter, die darin Jean Paul ähneln, halten jede Arbeit für ver-