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Einige Glossen zum System des Constitutionalismus.
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bei den älteren allmählich zu günstigen Resultaten geführt haben. Es ist gut und nützlich, daß sich ein constitutionelles Gewohnheitsrecht bildet, welches sich geltend macht ohue äußere Autorität, blos durch die Uebereinstimmung uud Zweckmäßig­keit seines Inhalts.

Allein eben so wenig dürfen wir verschweigen, daß wir trotz der innern Vortrefflichkeit des constitntivncllen Princips uud trotz aller Eidschwüre, mit denen man dasselbe äußerlich bei uns festgestellt hat, sehr wenig Glauben an die Fort­dauer nnd Fvrtentwickeluug desselben hegen würdeu, wenu wir uicht die Ueber­zeugung hätten, daß es sich eben so naturgemäß aus der individuellen Beschaffenheit unsres Volks und unsres Staats entwickelte, als bei den Engländern der Fall gewesen ist. Wir werden daher anch begreifen, daß bei uns seine eigene», von der Verfassung anderer Völker wesentlich abweichenden Formen finden muß.

Die Nichtachtung dieses individuelle» eigenthümlichen Inhalts, dem die Verfassung nnr seine angemessene Form geben soll, ist der Hanptsehler im Libe­ralismus des 18. Jahrhunderts, uud er tritt auch noch in unsrer Zeit zuweilen in den nächsten Kreisen unsrer Gesinnungsgenossen hervor.

Der Ausgangspunkt des modernen Liberalismus war die aufgeklärte Despotie. Eine Reihe genialer Fürsten nnd Staatsmänner hatten die Volker daran gewohnt, ihr Augenmerk vorzugsweise auf die Ausbildung der materiellen Interessen z» richten, und gegen die tieferen geistigen Momente im nationalen und religiösen Leben gleichgiltig zu sein. Der Staat galt als eine Musterwirtschaft in: Großen. Durch Sprichwörter aus dem Muude des alteu Fritz (in meinen Staaten darf Jeder nach seiner Fa^on selig werden zc.) gewann diese Ansicht eine große Popu­larität, uud als man endlich dahinter kam, daß das bessere Wissen genialer Fürsten und Staatsmäimer doch ein gefährlicher Hebel für das Staatswesen und auf die Dauer nicht zu ertragen sei, nud als mau iu Folge dessen nach einem neuen bewegenden Motiv im politischen Lebe» suchte, giug doch unbewußt der Inhalt der alten Ansicht auf das neue Princip über. Geuiale Fürsleu, die das Gute wollen, sind selten, uud auch wo der Fall ist, köunen sie Unheil anstiften, wie es das Beispiel Joseph II. zeigte, der bei dem besten Willen von der Welt doch mit seinen Absichten scheiterte, weil er die nothwendigen Voraussetzungen, die Sympathien der Völker, nicht in Rechnung gebracht hatte. Statt dessen suchte mau also nun einen Mechanismus herzustellen, iu welchem die poli­tische Vernnnft sich selber hervorbringen sollte. Ob man Montesquieu oder Rousseau folgte, ob mau das Wahlrecht auf beschränkter oder aus breitester Grundlage aufbaute, darüber war man einig, daß dieser mechanisch hervorgebrachte Collectivwille der Nation an Stelle des fürstlichen Absolutismus treten, uud daß iu deu Gebiete», die ih» uicht berührten, z. B. im Gebiet der Religion, die größtmögliche Freiheit nnd Toleranz herrschen sollte. Dieses Princip war z. B- noch bei einem höchst geistvollen Staatsmann, W. von Humbvldt, das leitende.