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Aesthetische Feldzüge. I. : Gegen Professor Ulrici in Halle.
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die Scene gerade auf dieser Stufe der Gefühlsentwickelung an ihrem richtigen Platz. Wir wollen diese Methode hier nicht vertheidigen, da nach unsrer Ansicht der Hamlet überhaupt über die Grenzen der dramatischen Knnst hinausgeht; wir führen sie nur an, um auf die Intentionen des Dichters aufmerksam zu machen. Ueber die Kategorien des abstracten Verstandes, über Raum und Zeit verfügt' der Dichter mit souverainer Willkür. In seinem Othello z. B. kann man Pnnkt für Pnnkt nachweisen, daß die Ermordung der Desdemona in der zweiten Nacht nach der Ankunft des Othello auf Cypern erfolgt; eben so kann man aber auch nach­weisen, daß die. in diesem Zeitraum enthaltenen Begebenheiten einen Umfang von beinahe einem Jahr voraussetzen. Shakespeare hat diese Freiheit in Beziehung auf die Zeit mit dem vollsten Bewußtsein ausgeübt. Eben so dnrchschanert uns im Macbeth während des Mordes das Gefühl einer unheimlichen Stille; später, wo der Dichter eine andere Stimmung braucht, kommt es ihm gar nicht darauf an, in dieselbe Nacht einen wahren Höllenlärm zu verlegen, in welchem alle Ele­mente losgelassen wider einander toben.

Das Maß der poetischen Realität fällt also nicht mit dem Maß der gewöhn­lichen Realität zusammen. Der Begriff der Realität, d. h. der vollständigen Durchdringung des Geistigen uud Materiellen, wird aber dadurch nicht aufgehoben. Nur aus dieser Jueiuanderbildnng geht das echte Kunstwerk hervor, und die größten Versündigungen in der Geschichte der Poesie lassen sich auf eine Aus­weichung nach der einen oder nach der andern Seite hin zurückführen. Wir haben auf der einen Seite den in der Luft schwebenden Spiritualismus,, den Aufban einer snpranaturalistischen Welt, auf den die irdischen Dinge keine Be­ziehung haben, ein abstractes Geisterthnm, das sich in der mittelalterlichen Mystik mit einer gewissen Kraft und Innigkeit, in der modernen Sentimentalität dagegen auf die sieche, unkrästige Weise, die ihr eigentlich angemessen ist, ausspricht. Denn unter Sentimentalität versteht man nichts Anderes, als in der Luft schwe­lende Seelenzustände, Empfindungen ohne Gegenstand. Wir haben aus der an­dern Seite jenen Materialismus, der mit der frivolsten Verneinung alles geistigen Inhalts auf weiter nichts ausgeht, als Farben, Gestalten und Bewegungen hervor- zubriugen, der mit pantheistischer Willkür den Menschen eben so behandelt, wie den Stein, das Element, die Pflanze: ein Materialismus, der in der bildenden Knnst noch zu begreisen und zu entschuldigen ist, weil diese mit rein sinnlichen Mitteln operirt, der aber in der Poesie zu den gräulichsten Mißgeburten führt. Nach beiden Seiten hin hat sich die Romantik verirrt, und Novalis und Victor Hugo, einen so vollständigen Gegensatz sie dem Anschein nach bilden, haben das Gemeinsame, daß sie Ideal und Wirklichkeit von einander trennen, und da diese Verirrnng sich nicht nur auf alle Zweige der Literatur, sondern auf das ganze Leben ausgedehnt hat, so kann nicht häufig genug daran erinnert werden, daß