Charakterbilder a»»s der deutsche»» Restaurations
literatur.
B e t t i n e.
Wenn man die Sorgfalt bedenkt, welche die deutschen Dichter seit der ersten Zeit, wo die Literatur sich zu heben begann, ans die Zeichnung weiblicher Charaktere verwendet haben, so könnte man sich fast darüber verwundern, daß bis zu den dreißiger Jahren hin, uns das schöne Geschlecht so wenig poetische Werke voir Bedeutung geliefert hat. In England und Frankreich nahmen schon seit längerer Zeit die Dichterinnen einen viel breiteren Ranm auf dem Parnaß ein. Die bekannten Dichterinnen der Restaurationsperiode, Fanny Tarnow, Caroliue Pichler :c>, bewegten sich im couventionellcn Styl des Denkens und Empfindens, sie sorgten für die Tagesbedürfnisse; prophetisch ihrer Zeit voranzueilen, sühltcn sie keinen Beruf. Und doch kann man nicht sagen, daß deshalb in der deutschen Literatur eiu männlicherer 'Charakter zn finden wäre. Mit welcher Vorliebe nud mit welcher, tiefen Kenntniß der weiblichen Seele hat Goethe seine Mignon, Ottilie, die schöne Seele, Jphigenie, die Prinzessin ausgeführt, während man bei seinen männlichen Helden ernsthafte Bedenken nicht unterdrücken kann. Mit welchem Eifer bestreben sich die Schlegel, Tieck, Schleiermacher, auf die schönen Seelen nnd die Blüthen der Salons einzuwirkeu. Schlegel legt seine kühnsten Bisionen einem startgeistigcu Weibe, der Luciude, in den Mund, Schleiermacher schreibt seine Monologe vorzugsweise für die Virtuosiunen des Gefühls, und Goethe giebt am Schluß .seines Lebens als letztes Ziel seiner Lebensweisheit den zwar etwas undeutlichen, aber doch in seiner wesentlichen Tendenz verständlichen Satz: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan."
Wenn also die Frauen in dem Goethe'schen Zeitalter nicht selber die Bausteine herbeiführten, aus denen der deutsche Musentempel aufgerichtet werden sollte, so waren sie es, welche die Arbeiter anregten, förderten und inspirirten. Allein ' dieser Einfluß war nur den Eingeweihten der Gesellschaft bekannt, und dem Zeitalter der Epigonen blieb es vorbehalten, das größere Publicum darüber Grenzboten. II. 18ö2. 61
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