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Empfindsamkeit, daß die dichterische Umwandlung unverkennbar ist, selbst die mitgetheilten Briefe auderer Personen trageu zu sehr das Gepräge seiueö eigenen Stils, um als historische Docmnente gelten zu können. Es sind novellistische Versuche, die zum Theil mit einer sehr glücklichen Anlage anfangen, aber im Schwnlst erstickt werden, und in einem eitlen, herzlosen Egoismus untergehen. Keine vou ihuen erreicht an Interesse die liebliche Episode der Graziella ans den frühern Bekenntnissen, obgleich anch die Mittheilung dieser traurigen Begebenheit, wenn sie wahr ist, dem koketten Antobiographen nicht eben zur Ehre gereicht. Es scheint mir, daß in der Mittheilung erlebter Herzensgeschichten Gvthe's Wahrheit und Dichtung noch immer dasjenige Buch ist, welches den meisten Tact zeigt.
Der Con8oiIIei' äu ?eup!o ist, so zu sageu, die zweite Auflage der verschiedenartigen Reden, welche Herr v. Lamartine seit seiner vierjährigen parlamentarischen Wirksamkeit gehalten hat. Er ist in demselben erbaulich-prophetischbelletristischen Ton, der die frühere Politik des Versassers auszeichnet, seine ans der Reise nach dem Orient concivirten Visionen über eine politische Verbindung des Osteus mit dem Westen mit einbegriffen; eine Geschichtsphilosophie für das Volk, die ein solches Auditorium freilich nicht zu widerlegen weiß, ans der aber in der Praxis nichts zu machen ist. Der einzige rothe Faden, der sich durch diese Visionen zieht, ist das Eingeständuiß, daß es eigentlich in Frankreich nur Einen Mann gebe, der die große Aufgabe der Zukunft zu begreifen uud auszuführen im Stande sei: Herrn v. Lamartine. Und da ein beständiges Selbstlob des Verfassers dem Publicum doch zu einförmig werden könnte, so sorgt dieser dasür, daß zuweilen in seinem eigenen Journal ein Anderer auftritt uud erklärt, er köuue sich uicht helfeu, Herr v. Lamartiue sei doch der größte Mann des Jahrhunderts. Im Uebrigeu eine vollkommene, lächelnde Toleranz gegen alte Personen uud Systeme; eiue Toleranz, die um so höher anzuschlagen ist, je weniger ihr ein gründliches Stndium über die beurtheilten Gegenstände vorangeht, die sich aber eben darum dem Uebelstand aussetzt, von allen Seiten ein sehr derbes Dementi zu erhalten.
Lamartine's Zeit ist vorüber. Seine Gedanken sind von ziemlich allen Parteien in ihrer Hohlheit durchschaut; die sonoren Banalitäten, die er in beständiger Variation wiederholt, finden nirgend mehr Anklang, und seine Person hat er selber mit so viel Zudringlichkeit zur Schau getrageu, daß auch eiu nicht besonders begabter Verstand sich über den Werth derselben nicht länger täuschen kann.
Die letzte Nummer des Journals, die mir zu Gesicht gekommen ist, bietet wieder ein Interesse in anderer Beziehung. Herr von Lamartine hat in diesen Tagen eine Reise nach England gemacht, uud theilt die Beobachtnugen derselben seinen Lesern mit. Schon früher hat er sich zweimal dort aufgehalten: 1822 und 1830; beidemale war er durch den gedrückten Zustand der untern Volksclasse so erschreckt
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