Illusionen über die Masse
Illusionen über die Masse
von Frhrn. von Freytag-Loringhoven, General der Infcmt. a. D,
Dr. d. c.
Unter den zahlreichen Trugbildern, die bei uns durch die Revolution aufgekommen sind, ist die Borstellung von der Reife der breiten Masse des Volkes mit das Schlimmste. Sie soll angeblich befähigt sein, ihr Schicksal in jeder Hinsicht selbst in die Hand zu nehmen. Nun ist kein Zweifel, daß auf Grund der verbreiterten allgemeinen Volksbildung sich die Zahl der urteilsfähigen Menschen in Deutschland in den letzten hundert Jahren stark vermehrt hat. Man konnte sich bei einer Jahrzehnte umfassenden Dienstzeit leicht davon überzeugen, wenn man die im Unterrichte der Mannschaften in unserem alten Heere erzielten Fortschritte ins Auge faßte. Spricht man jetzt mit Männern, die aus dem Volke hervorgegangen sind, wird man seine Freude haben, wie sicher sie oft urteilen. Wohl verstanden, es handelt sich hier nicht um gelehrtes Wissen, sondern um eiuc Bildung, die dem Verstände die erforderliche Entwicklung sichert. Derartige Lente sind zahlreich, aber sie bilden darum noch längst nicht die eigentliche Masse, kommen vielmehr gegen diese, soweit sie von gewissenlosen Aufwieglern irregeleitet wird, nicht auf.
In der Überschätzung der Urteilsfähigkeit und des Leistungsvermögens der Masse selbst zeigt sich die den radikalen Parteien völlig fehlende Beachtung aller geschichtlichen Tatsachen. In seiner „Geschichtsphilosvphie" hebt Theodor Lindner hervor, daß man sich leicht einen falschen Begriff davon mache, wie weit die Masse an großen Borgängen mit tieferem Verständnis teilgenommen habe, uud führt als Beispiele die deutsche Reformation und die französische Revolution an. Mau könnte diese Beispiele beliebig vermehren. Auch die Erhebung Preußens vom Jahre 1813 ist im wesentlichen das Werk der gebildeten Stände, nicht der breiten Masse des Volkes. Die großartige nationale Einmütigkeit, die sich bei uns 1ö14 zeigte, griff weit hinunter in die Tiefen des Volkes, daß sie aber hier doch eigentlich nur in den erwähnten Elitenatnren fest wurzelte, sollte sich leider bei längerer Kriegsdauer immer mehr offenbaren. „Die Masse", sagt Liuducr, „kaun bei der durchschnittlichen Unbildung nie Ideen in ihren feinen Einzelheiten fassen, sie vermag das nur in groben Umrissen. Wer 1870 im Felde gestanden hat, wird wissen, wie wenig die Begeisterung und der Kampfesmut der Truppen mit klaren Borstclluugeu verbunden waren; selbst die Errichtung des Kaisertums machte dem gemeinen Manne keinen sonderlichen Eindruck." Weil wir im Weltkriege diesen psychischen Eigenschaften der Masse durch eine auf sie zugeschnittene Propaganda nicht Rechnung zu tragen wußteu, blieben wir uusereu Gegnern gegenüber stets im Nachteil, die solche Propaganda meisterhaft zu handhaben verstanden.
Einen Hauptgrund für diesen Mangel bei uns bildete der Umstand, daß Wohl bei keinem anderen Volke die Kluft, die den Gebildeten vom Ungebildeten trennt.
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