Dr. jur. Joachim Selig söhn
Bekenntnis zum Sozialismus
Von Dr. jur. Joachim Seligsohn Mitglied der mehrheitssozialistischen Partei
Ungeheuer groß ist die Zahl derer, die sich heute mit Politik beschäftigen — fast noch größer die Menge derer, die meinen, sie hätten den Stein- der Weisen in der Kunst, praktiscbe Politik zu treiben, gefunden. Die wenigsten von allen diesen verfügen über politische Schulung — politisckes Denken ist ihnen dasselbe, wie Empfinden, Gefühl in einer Frage der praktischen Politik. Und doch ist Politik eine Kunst, die verlangt, daß man gegebenenfalls das Gefühl, häufig auch den Verstand ausschalten muß — nur Verstandespolitiker sind ebenso von llbel, wie nur Gefühlspolitiker.
Wer gibt sich Rechenschaft über sein politisches Werden? Wer legt auch an sich die kritische Sonde und vergegenwärtigt sich, wie oft er sein politisches Hemd gewechselt? Umlernen gibt es heut überall, selten aber sind die. die ihr Umlernen auch zugeben. Und doch: wir alle, die wir heißen Herzens uns politisch betätigen, wir alle, die wir keine Doktrinäre oder Parteifanatiker — sein wollen, wir alle haben umgelernt, haben uns von links nach rechts, von rechts nach links entwickelt.
Viele, allzuviels sind durch den entsetzlichen Krieg in politische Bahnen gewiesen worden, die wirklich kein Zeug zum Politiker haben. Das sind alle die, die kein Problem unpersönlich, möchte ich sagen, debattieren können. Die. von der großen Politisierungswelle erfaßt, nunmehr ihren wahren Beruf entdeckt zu haben glauben, die ohne geschichtliche und gesellschaftswissenschaftliche Bildung ihr Gefühl, ihren Instinkt allein sprechen lassen, ohne sich zu vergegenwärtigen, daß auch dieser — sogar bei der Frau — einmal versagt. Wir schreien förmlich nach politischen Führern und denken nicht daran, daß es nicht die Macht des Wortes, des geschriebenen oder gesprochenen, nicht ein ungeheures Maß von Bildung, nicht ein fchier unerschöpfliches Reservoir an Wissen, nicht ein Gefühl allein ist, was zum Führer qualifiziert. Alles dies oder doch die Mehrheit davon mutz zusammenkommen und noch etwas: Liebe zum Menschen, Liebe zum Volk, Liebe zur Welt.
Wer bis hierher nachgedacht hat, der wird sich bald fragen: wie geht's nun mit dir selbst? Bist du Politiker, bist du gar Führer? Er wird sich sein Po- litisches Werden vergegenwärtigen, er wird sich selbst analysieren — und er wird einen Schntt weiterkommen. Er wird sich fragen, wie bist du zu deiner politischen Überzeugung gekommen? Und wenn er dann nachdenkt und sich sein Sein zergliedert, dann wird er fast nur Irrwege gehen, nicht Wege, die ihn zum Irrtum geführt, sondern solche, die in eine Sackgasse gemündet sind — kurz, viel vergebliches Streben, mehr Dornen als grünende Auen. Aber jeder, auch der, der verzweiflungsvoll die Hände ringt, ob der Wüste, die er schaut, jeder wird irgendwo irgendwann anlangen, wo er seinen „Wendepunkt" findet, wo sein Erleben beginnt, wo er fühlt, daß er plötzlich erwachsen geworden, daß er erwacht ist.
4l2