Franz Marc
wir jetzt täglich Zeugen sind), meine Briefe — in all dem steckt schon eine Wirklichkeit, in die ich wenigstens zuweilen meine Nase stecke und in der ich mich zuweilen wach, auf beiden Füßen und anwesend fühle, obwohl ich nie das Bewußtsein dabei verliere, daß dies alles für mich nicht wesentlich ist, nur Wege. Spaziergänge ohne Ziel, die man zur Erholung und „um sich zu fühlen" und um nicht untätig zu sein, geht, um dann wieder zu sich nach Hause zurückzukehren in sein eigenes gänzlich unsichtbares „Heim". Und das ist das dritte Leben: das unbewußte Wachsen und Gehen nach einem Ziel; das Keimen der Kunst und des Schöpferischen, der Keim, den man nicht vorwitzig berühren darf. Alles andere wird für mich unwesentlich und gleichgültig, wenn ich über dieses eigentliche innere Leben brüte; wie der Vogel über seinem Ei, so sitze und brüte ich über diesem Leben — und was ich sonst tue und denke, gehört gar nicht wesentlich zu mir.-------------------
Ich setze mein Leben und mein Werk, an das ich glaube, nicht leichtfertig ein für eine Sache wie diesen Krieg, die mich nur äußerlich interessiert. Ich kann ja immer noch nicht über den Krieg schimpfen und ihn hassen wie Du — als ob die Menschen vor dem Kriege und nach dem Kriege und je besser gewesen wären. Was ist denn der Krieg anders als der bisherige Friedenszustand in anderer, eigentlich ehrlicherer Form; statt Konkurrenz gibt es jetzt Krieg. Ob die Menschen auf Schlachtfeldern sterben oder durch Stubenluft und in Bergwerken, ist kein wesentlicher Unterschied; der Tod selbst und die Wunden verderben die Seele nicht. Den Tod als Zerstörung erkenne ich überhaupt nicht an. Der Tod Deines Vaters war mir doch noch furchtbarer und erschütternder als der Tod Wilhelms; ich weiß nicht, ob Du das verstehst. Faß es jedenfalls nicht aus, als ob ich jetzt abgestumpft wäre oder den Kriegstarantelstich hätte, wie Du schreibst; ich fühle hierin, wie ich immer gefühlt; vielleicht erinnerst Du Dich, wie ich schon immer früher über den Tod sprach: er ist absolut Erlösung. Dazu braucht man kein Pessimist sein, nicht einmal Buddhist, höchstens Christ. „Tod, wo ist Dein Stack»l?" — Es ist nicht einmal wahr, daß ich mich „an den Krieg gewöhne", wie Du annimmst; aber ich taste immer ehrlicher an die Wurzel von dem allen, auch an die Wurzel der Friedenszeiten. Ich glaube nicht an die „menschen- würdigeren Zeiten", von denen Du so viel sprichst; sie sind nur latent, übertüncht — aber immer, im Frieden und im Kriege, gibt es noch ein anderes Leben, das kein Tod, kein Mord, kein Sterben, keine Wunden und keine Krankheiten bezwingt und das von Weltverböserung so wenig als von Weltverbesserung beeinflußt werden kann. „Mein Nerv wurde hart in mancher roten schöpferischen Stunde" — vielleicht ist es das; denn ich bin sonst, als Mensch, nicht grausamer, hartherziger geworden; Du kennst mich ja. Aber wenn ich im Leben was tue, meinem Nächsten oder auch dem Nächstbesten christliche Liebe erweise, will ich es inimer so tun, daß meine rechte Hand nicht weiß, was die linke tut — nicht aber als Programm, als Welttendenz und um was zu bessern. Ich dachte auch viel über Livingstone nach; er ist verehrungswürdig wie Franz von Assist, Pascal und Christus; aber liegt sein Erbfehler nicht auch in seiner Organisation der Mission? was wurde heute daraus? denkst Du heute über Heidenmission auch schon anders? Ich nicht. Gibt es heute weniger Sklaven? Werden die Menschen heute nicht mehr verkauft? die Formen ändern sich, sonst nichts. Es gibt nur einen Segen und Erlösung: den Tod; die Zerstörung der Form, damit die Seele frei wird. Du mußt nicht denken, daß ich die Bibel „poetisch" lese; ich lese sie als Wahrheit, wie ich Bach als Wahrheit höre und reine Kunst als Wahrheit sehe. Kannst Du mich verstehen? Ach könntest Du doch! — — —---
Geschrieben 1914/l915. Marc fiel am 2. März 1916.
HOL