Fritz Kern
handwerklicher Kultur aus dem güterarmen, menschenreichen Land des Fleißes und der Genügsamkeit kommen. Aus der herrischen germanischen Volkswanderung war die Auswanderung demütiger Kolonistengemeinden geworden. Sie gingen dem deutschen Vaterlande verloren, blieben aber dort im Osten einem freilich isolierten und geistig verkümmernden Deutschtum bis heute erhalten, weil die Völker des Ostens die an Kultur und rasch wachsendem Wohlstand ihnen überlegenen, rastlos vorwärts strebenden Siedler nicht assimilieren konnten. Zwei Millionen deutscher Kolonisten haben im Weltkriege auf den Ruf des Zaren gehorsam gegen Deutschland gedient. Sie gaben der russischen Armee Kern- foldaten, wie das ältere deutsche Baltentum Generäle und Stabsoffiziere. Sie pflegten das Andenken an die Heimat ihrer Vorfahren in ihrem deutschen Gemüt und wurden doch Nägel zum Sarge unserer Macht.
Der Kolonist war nicht der einzige Auswanderer. Deutsches Kriegerblut verdingte sich seit den Tagen des Niederganges mittelalterlicher Kaisermacht immer häufiger in den Sold fremder Kriegsherren. Kaum eine Schlacht auf der Erde ist in neueren Zeiten ausgefochten worden, bei welcher nicht deutsche Neislnuser, Abenteurer oder Auswanderer auf irgend einer Seite ihre „Pflicht" taten.
In den letzten hundert Jahren vor dem Weltkriege wurde Amerika das Lieblingsziel der individuellen deutschen Auswanderung. Die Vereinigten Staaten allein haben in diesem Zeitraum über fünf Millionen deutscher Einwanderer gezählt, die durch Arbeitstüchtigkeit, Kinderreichtum, Zähigkeit ein Hauptfundament der heutigen Macht, Volkszahl und wirtschaftlichen Suprematie der Vereinigten Staaten geworden sind. Im amerikanischen Bürgerkriege haben die Deutschen durch ihre soldatischen und Führereigenschasten den Sieg der Nordstaaten, damit die Zukunft des Angelsachsentums und der nordamerikanischen Weltstellung erringen helfen, und deutsch war noch die Umgangssprach e in so mancher frischen Stern- und Streifenkompagnie und Batterie, deren Überzahl 19t 8 die erschöpfte Armee des Deutschen Reiches in die Defensive trieb. Die Menge der deutschen Einwanderer des 19. Jahrhunderts und ihrer Nachkommen ist in der Union größer als die Zahl der angelsächsischen Einwanderer des gleichen Zeitraumes und ihrer Abkömmlinge*). Trotz ihrer Masse aber, trotz viel Heimatliebe und allerlei Familienbeziehungen zum Mutterlande haben diese zersplitterten deutschen Auswanderer nur das Weltreich der Angelsachsen miteröauen helfen, einerlei, ob sie in britische oder in Unionsgebiete abwanderten. Nach wenigen Menschenaltern verliert sich der ausgewanderte Deutsche in der angelsächsischen Sprache und Kultur, die ihn im Gegensatz zu den östlichen Kulturen als ebenbürtig umfängt. Und selbst der Auswanderer erster Generation gewöhnt sich meist rasch jene Empfindungsweise an, die den Satz prägte: „Deutschland ist meine Mutter, aber Amerika meine Frau." Der italienische Arbnter oder der Kuli, der in der Fremde arbeitet, kehrt mit dem Verdienst in die Heimat zurück; der deutsche Aus-
*) Das Verhältnis ist etwa S deutsche zu etwa 7 englischen und irischen Millionen Einwanderern, doch sind unter den letzteren sehr viele Iren, so daß die Zahl der nicht- angelsächsischen Einwanderer allein aus Deutschland, von den zahlreichen roman ischen usw. Einwanderern ganz abgesehen, die der angelsächsischen Einwanderer weit übersteigt. Deutsche^und Iren find aber auch kinderreicher als die Angelsachsen.
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