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Das amerikanische Credo :
(Fortsetzung aus Heft 7)
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H. L. Mencken, Baltimore

Sinne dieser Seelenhirten und auf Grund seiner inneren Erleuchtung ausfindig zu machen, zum Austrag zu bringen und eine schnelle, furchtbare und überwältigende Strafe zu bestimmen und zu vollziehen.

Selbst seine allerschärfsten Widersacher müssen zugeben, daß er sich mit der höchsten Energie und Beharrlichkeit nur für einen einzigen Zweck vorbereitete und alle kleinlichen Bedenken über seine Mittel und Wege fallen ließ. Durch das moralische Gesetz war er ebenso wenig verpflichtet, den Werdegang, durch den der Angeklagte zur Verantwortung gezogen und die Schwere der Strafe wirksam ge­macht wurde, zu berücksichtigen, als irgend ein Detektiv zu erwägen verpflichtet wäre, auf welchem Wege ein gewöhnlicher Gefangener in die Mühle der Gerechtigkeit gelockt Wochen ist. Der Detektiv selbst ist vielleicht ein wichtiger Faktor in diesem Werdegang, er hat vielleicht den Gefangenen durch eine List, unier der ärgsten Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Fall gebracht, vielleicht hat er sogar den sZent prvvveateur gespielt und so tatsächlich das Verbrechen angeregt, geplant und über­wacht. Aber wer daraus die Schlußfolgerung ziehen wollte, daß der Detektiv sogleich die Überschreitung des Gesetzes und die dafür rechtlich vorgesehene Strafe hintenansetzen und zur Verteidigung übergehen würde, weil sein Verkehr mit dem Gefangenen ihm gewisse Ehrenpflichten auferlegt hat, der würde sich durch sein Urteil nur lächerlich machen. Die Welt würde über einen solchen moralischen Moron" spotten, wenn sie ihn nicht gar als Feind der Menschheit unschädlich machte. Sie erkennt sowohl den Moralkodex, als den Ehrenkodex an und weiß, daß sie sich nicht mit einander vertragen. Sie rechnet damit, daß ein Mann, der sich dem Dienst der Moralität verschworen hat, seine Pflicht auch auf Kosten der Ehre erfüllen wird, gerade ebenso, wie sie weiß, daß der Mann, der sich öffentlich zur Ehre bekennt, sein Wort um jeden Preis hält, auch wenn die eigene Moral oder die allgemeine Sittlichkeit noch so sehr geschädigt wird. Überdies ergreift die Welt in jedem Konflikt für die Moral Partei; es gibt viel mehr Moralisten als Ehrenmänner.

Die Leute halten es für sehr viel wichtiger, daß der Schuldige entdeckt, in Gewahrsam gebracht und der Strenge des Gesetzes überantwortet, als daß die Ehre dieses oder jenes Menschen gewahrt wird. Unter gewissen, durchaus nicht vereinzelten Umständen haben sie vor einem Manne, der auf diese Weise seine Ehre oder selbst ihre Ehre preisgibt, eine bedingungslose Hochachtung. Der ehrvergcssene" Mann kann wirklich zum volkstümlichen Helden werden. Als im Jahre 1903 der ehemalige Generalmajor und spätere Präsident Roosevelt den Vertrag von 1846. in dem die Vereinigten Staaten die Souveränität Kolumbiens über die Landenge von Panama gewährleisteten, in Fetzen riß, verzieh die große Masse der breiten amerikanischen Volkskreise nicht nur unverzüglich diese grobe Ehrver­letzung, sondern jubelte Dr. Roosevelt zu, weil sein Vorgehen die große sittliche Tat. den Kanalbau förderte.

Diese Unterschiede sind natürlich allen Menschen wohlbekannt, die sich mit dem Studium der menschlichen Psyche befassen. Daß Moral und Ehre nicht e i n Begriff, sondern zwei, sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Begriffe sind, ist dem Eingeweihten gewiß nicht neu. Aber alles, was demnach nur ein ethisches, politisches oder psychologisches Axiom ist, wird seltsamerweise in den Vereinigten Staaten oft als Geheimnis behandelt. Wir haben uns angewöhnt, alle Tatsächltch- teiten des Lebens, mit Ausnahme der alleroberflächlichsten Geschehnisse, zu umgehen, und durch die lange Entwöhnung haben wir fast die Fähigkeit des analytischen und exakten Denkens verloren. Bei uns kann etwas allgemein bekannt sein und doch nie­mals für erwähnenswert befunden werden. Ungezählte elementare Alltäglichkeiten hüllen wir in ein so undurchdringliches, unheimliches Schweigen, wie der Südsee- Jnsulaner den geweihten Namen seines Häuptlings. Jedesmal, wenn die Wahlen vor der Türe stehen, sorgt man in den großen Städten dafür, daß die wichtigsten Kontro­versen geheimgehalten werden, insbesondere wenn sie einen religiösen Einschlag

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