Die Zerstörung der Persönlichkeit
Betrachtet von diesem Gesichtspunkt die Kulturgeschichte, verfolgt die Rolle des Individualismus in den Zeiten der Stockungen des Lebens, studiert seine Urbilder in den Zeiten der Aktivität, wie zum Beispiel Renaissance und Reformation; ihr werdet sehen: im ersten Falle zeigt sich die offenbarste Beharrungssucht der Individualität, ihr Hang zum Pessimismus, zum Quietismus und zu anderen Formen einer der Welt gegenüber nihilistischen Haltung. In solchen Zeiten, da das Volk wie immer ohne Unterbrechung seine Erfahrung kristallisiert, scheint die Persönlichkeit, da sie sich vom Leben nichtachtend entfernt, den Sinn ihrer Existenz zu verlieren und schleppt ohnmächtig ihre Tage schamvoll im Schmutze und der Fadheit der Werktage, verzichtend auf ihre große schöpferische Aufgabe — die Organisation der Gemeinschaftserfahrung unter der Form von Ideen, Hypothesen und Theorien. Im zweiten Fall seid ihr betroffen vom raschen Wachstum der geistigen Macht der Persönlichkeit — einer Offenbarung, die man nur durch die Tatsacke erklären kann, daß in diesen Zeiten sozialer Stürme die Persönlichkeit der Sammelpunkt von Tausenden von Willen wird, die sie als ihr Organ erwählt haben, und sich vor uns in einem herrlichen Licht von Schönheit und Kraft, in der glänzenden Flamme der Wünsche ihres Volkes, ihrer Klasse, ihrer Partei aufrichtet.
Es ist gleichgültig, wer diese Persönlichkeit ist — Voltaire oder der Erz- pope Avvakuum, Heine oder Fraolcino, und es ist gleichgültig, welche Kraft sie bewegt — oder die deutsche Demokratie oder die Bauern — worauf es ankommt, ist nur, daß alle Helden vor uns als Träger der Willenskraft der Gemeinschaft erscheinen, als Übersetzer der Massenwünsche; Miczkiewicz und Krasinski sind in den Tagen erschienen, da ihr eigenes Volk dreist in drei Teile zerrissen war, aber da es sich, mit mehr Willenskraft als je zuvor, als geistig Ganzes fühlte. Und allzeit und überall im ganzen Lauf der Geschichte — das Volk schuf den Mann.
Als noch schlagenderer Beweis dieser Hypothese kann uns das Leben der italienischen Republiken und Kommunen im Tre- und Quatrocento dienen, als die Schöpfung des italienischen Volkes tief in alle Winkel des Geistes drang, mit ihrer Flamme die ganze Ausdehnung des Lebensgebäudes erfüllte und eine so große Kunst schuf, da sie diese erstaunliche Zahl von Großmeistern des Wortes, des Pinsels und des Stichels ins Leben gerufen hatte.
Die Größe und Schönheit der Präraffaeliten ist durch die geistige Nähe des Künstlers zum Volke zu erklären; die Künstler unserer Tage können sich leicht davon überzeugen, wenn sie den Wegen Ghirlandajos, Donatellos, Brunelleschis, wie aller Arbeiter dieser Epoche folgen wollten, in der die Schöpfung in ihrer Intensität sich am Rande des Wahnsinns befand, einer Naserei ähnlich, und in welcher der Künstler der willkommene Liebling der Volksmasse war und nicht der Lakai eines Mäzens. So schrieb 1293 das Volk von Florenz, als es Arnolfo di Lapo die Errichtung einer Kirche anvertraute: „Du wirst so ein Bauwerk errichten, daß sich die menschliche Kunst nichts Großartigeres und Schöneres vorstellen könnte; du mußt es so erschaffen, daß es dem außerordentlich groß gewordenen Herzen entsprechen soll und in sich die Seelen der Bürger, die auf einen einzigen Willen gegründet sind, vereinigen soll."
Als Cimabue seine Madonna beendet hatte, herrschte in seinem Viertel eine solche Freude, ein solcher Ausbruch von Bewunderung, daß von diesem Tage an das Viertel Cimabues den Namen „Borgo Allegro" angenommen hat. Die Geschichte der Renaissance ist erfüllt von Tatsachen, die bestätigen, daß zu dieser Zeit die Kunst öffentlicher Besitz war und für das Volk vorhanden war. es hat sie erhoben, genährt mit den Säften seiner Nerven und in sie seine unsterbliche, große, kindlich naive Seele gelegt. Das ergibt sich unbestreitbar aus den Zeugnissen aller Geschichtsschreiber der Zeit; sogar der Antidemokrat Monier sagt zum Ende seines Buches: „Das Quatrocento hat bewiesen, was der Mensch alles zu tun fähig ist.
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