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bemerkt zuerst die Ängstlichkeit, die Zimperlichkeit, mit der alle wichtigen Lebensfragen behandelt werden. Wir haben z. B bestimmte Gesetze, die es praktisch unmöglich machen, die sexuelle Frage auch nur annähernd mit einer gewissen Offenheit zu erörtern. Die Literatur über dieses Thema ist unerschöpflich, und das allgemeine Verständnis für die W chtigkeit dieser Frage ist dadurch erwiesen. Aber alles, mit Ausnahme eines kleinen Bruchteils dieser literarischen Erzeugnisse, ist von Pfuschern geschrieben und für ein Publikum bestimmt, das die Wahrheit nicht hören will. Dasselbe gilt für die Politik. Fast als einzige Ausnahme unter den zivilisierten Völkern der Welt verfolgen die Amerikaner jeden, der die politische Tagesiheorie tadelt, mit mittelalterlicher Grausamkeit, verurteilen ihn zu unermeßlich langen Gefängnisstrafen, bezichiigen ihn der Aufruhrstiftung und des Meineides, behandeln ihn schlimmer als einen gewöhnlichen Gauner und drücken zuweilen die Augen zu, wenn ein Justizmord an ihm verübt wird. Das gilt vor ollem in religiösen Fragen. Amerika ist der einzige christliche Siaat, in dem es keine antiklerikale Partei gibt und daher keine ständige und wirksame Kritik der in klerikalen Kreisen herrschenden Überhebung und Korruption. Infolgedessen wollen bei uns alle Kirchengemeinschaften die Gewaltherrschaft an sich reißen, und die meisten, die irgendwie eine numerische Überlegenheit aufweisen, üben sie bereits aus.
So besitzt die katholische Kirche in sechs unserer bedeutendsten Städte eine größere Macht als in Spanien und in Österreich. Ihr Tun und Lassen steht vollkommen über jeder öffentlichen Kritik; sie ernennt und verabschiedet die Staatsbeamten nach Beli ben; sie terrorisiert die Zeitungen; sie beeinflußt Polizei und Gericht; sie ist stark genug, um jeden zu vernichten und zum Schweigen zu bringen, der gegen ihre Regierungsform Einspruch erhebt. Aber nicht genug damit! Die katholische Kirche ist zum mindesten eine Organisation, die in vollem Maße streng rechtlichen, ja sogar löblichen Zwecken dient, deren führende Männer weit über den Leidenschaften der großen Masse stehen und klug genug sind, um nicht nur den Vorteil des Augenblicks im Auge zu haben. Und was noch wichtiger ist, ihre internationale Stellung, durch die sie objekivere und überlegenere Anschauungen gewinnen, enthebt sie auch mancher landläufigen Schwäche der eingeborenen Plebs. Das beweist uns ihre fortgesetzte Opposition gegen das Alkoholverbot, ihr Widerstand gegen die gerichtliche Bekämpfung der Unstttlichkeit und anderer, in diese Kategorie gehörenden Leidenschaften der Enterbten und Unglücklichen. Ihre glänbige Herde ist unwissend und leicht erregbar und daher ein vortreffliches Futter für alle Schwindel-Reformatoren. die sich über das Proletariat hermachen wollen. Aber sie wird von ihrem Klerus gehület. zu dessen Interesse an der unverfälschten Religion sich das jahrhundertalte Erbteil weltlicher Weisheit gesellt. So ist die römische Kirche, wenigstens in Amerika, eine Zivilisations-Agentur, nnd wir dürfen ihren zynischen Bund mit der politischen Korruption wohl ungerügt hingehen lassen, in Anbetracht ihrer unerbittlichen Feindschaft gegen jene schlimmere Korruption, die die Grundlagen der Freiheit, des Friedens und der Menschenwürde zersetzt. Vielleicht ist sie etwas zu schlau auf ihren Vorteil bedacht, vielleicht ist sie ein bißchen übertrieben realistisch. Aber sie ist zweifellos nicht schmutzig.
Auf die Gegenpartei paßt jedoch diese Bezeichnung wie angegossen! Unter Gegenpartei verstehe ich nämlich die vereinigten protestantischen Kirchengemeinschaften, die man „evangelisch" zu nennen pflegt, die Methodisten, die Baptisten, die Presbhtericmer und die Gefolgschaft ihrer Nachbeter und Untergebenen.
Aus dieser Gruppe stammt die vorherrschende religiöse Stellungnahme des amerikanischen Volkes, und insbesondere verdanken wir ihr den Lehrsatz, daß jede religiöse Wirksamkeit unangefochten bleiben muß, auch wenn sie in ganz offenkundigem Gegensatz zum herkömmlichen Anstand und zum gesunden Menschenverstands steht.
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