Russische S ch a u s p i e l k u n si
Ganzen eingeordnet. So strömt auch hier der wesentliche Eindruck — die lustspielhafte Heiterkeit — aus der Ensemblekunst.
Ihre Schwäche aber äußert sich — für unsern Blick — nicht bloß in der Darstellungsweise, sondern fast noch deutlicher in ihrem Darstellungsvermögen. Da ihre ganze künstlerische Intention auf die seelische Situation gerichtet ist, so droht immer die Gefahr, daß das Band zwischen der Situation und den Charakteren zerreißt. Zwar mag der Spielmeister immer die Situation aus den von ihm individuell gesehenen Charakteren entwickelt haben. Aber der darstellerische Drang des einzelnen Schauspielers verliert leicht die Kraft, die Charakteristik der Figur so aufzubauen, daß sich aus ihr mit sichtbarer Notwendigkeit die seelische Situation entwickelt. Diese Gefahr zeigt sich gleich von vornherein in der Herkömm- lichteit der Masken. Wie der Darsteller nicht nachdrücklich genug mit der neueren Gestalt der Figur ringt, so beschäftigt sich seine Phantasie nicht genügend mit ihrer äußeren. ES hat viele deutsche Zuschauer gegeben, denen der Zorn über diese Schablonenhaftig- kett des Aussehens besonders der Männer (die den ganzen Aufführungen oft den eigentümlich provinziellen Zug gibt) den Blick für die Borzüge ihres Spiels geraubt hat.
Die tiefere, der beschriebenen zugrunde liegende Gefahr aber ist jene, die die Darstellungsgrundlagen angreift. In der Stärke der russischen Schauspielkunst, der realistischen Spiegelung des kleinen, intimen Lebens, liegt zugleich diese ihre tiefste Schwäche. Nur zu leicht wird der Sinn der Darsteller von der den Einzelausdruck, den einzelnen belebten Moment belebenden Menschlichkeit abgelenkt zum Einzelausdruck an sich. Jede derartige — intellektualistisch« — Schauspielkunst neigt dazu, den Einzelmoment Selbst
zweck werden zu lassen. An die Stelle künstlerischer Gestaltung tritt dann die Virtuosität, die Routine, die Erstarrung im Technischen. Dieser Gefahr sind bereits sehr viele der Moskauer Schauspieler erlegen.
Schützen kann vor ihr nur eine dauernde, scharfe Selbstkritik und Selbstzucht — die meistens aber nur gerade dort tätig ist, wo sie nicht am ehesten nottut. nämlich bei den begabtesten, den genialen Schauspielern. Denn deren darstellerischer Urtrieb hindert sie schon, die Grenzen, die Form, die Sphäre verdichteter Menschlichkeit, anders ausgedrückt: die da« Wesen der Gestalt in einfachen, klaren, großen, unmittelbar sprechenden Zügen ausdrückende Grundhaltung zu verlassen, die jede Variation dieser Haltung, jedes Wort, jede Geste lebenspendend durch- dringt. Man stellte beglückt fest, daß eine ganze Reihe der russischen Schauspieler, besonders der Frauen unter ihnen, diesen gesunden Urtrieb, diese schauspielerische Dämonie besitzen. Sie erst macht eine noch so interessante nationale Schauspielkunst zu einer übernationalen Angelegenheit. Allein von ihr strömt der menschliche Zauber einer Aufführung aus. Darum denken die deutschen Zuschauer zuerst an die großen Eindrücke, die sie ihr verdanken, und darum sei zum Schluß statt aller derer, die diese Eindrücke schufen, wenigstens jene eine, unvergleichliche Schauspielerin genannt: Frau Germanowa. Sie beherrscht nicht bloß alle Künste realistischer Lebensspiegelung, sie entschleiert nicht bloß allen Glanz echtesten russischen Frauentums; sie berührt uns auch am nächsten und stärksten durch die künstlerische Größe lebendigen Aufbaues, lebendiger Entwicklung und dramatischer Abwandlung der von ihr verkörperten Gestalten. Den Matzstäben, die wir an die modernsten deutschen Schauspieler legen, ist diese Russin gewachsen.