Im alten Brüssel
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Auf dem St. Katharinenmarkt war alles beim alten geblieben. Fintje sah bekannte Gesichter, wohin sie schaute. Sie erhandelte sich ein paar Orangen und fragte nebenher so leichthin, ob die Hexe aus dem Pouchenellekeller, von der sie habe erzählen hören, noch immer bei den Theateraufführungen das Regiment führe. Arglos erteilte ihr das uebenhertrabende Froitwijvken Auskunft. Ihre Angst war unbegründet gewesen, die Großmutter waltete noch rüstig ihres Amtes, Papa Tooue machte weiter als Theaterdirektor nnd Wirt gute Geschäfte, Oomke aber war unter die Sozialisten gegangen.
Langsam schlich Fintje nach Hause, den wohlbekannten Klang des Marollien noch in den Ohren.
Oomke ist unter die Sozialisten gegangen? Der scheue, iu sich gekehrte, stille Oomke?
Deutlich sah sie die Stube vor sich mit der grünumschirinten Petroleumlampe und den bunten Marionetten, die Oomke so geschickt und geduldig aufzuputzen und zurechtzuflicken verstand. Wie sollte sie sich den wohl im Volkshanse, zwischen all den lauten, unzufriednen Männern vorstellen können?
Oomke war immer gut gegen sie gewesen, schon als sie noch kleine Kinder waren.
Die Flut zurückgedrängter Erinnerungen schlug jetzt jählings über ihr zusammen, da war kein Ausweichen mehr. Hilflos versank sie darin. Wenn sie nur Neues Hand jetzt hätte fassen können! Wenn er nur heute bei ihr wäre, und sie sich fest nu ihn schmiegen konnte, vielleicht würde sich alles wieder beschwichtigen lassen, was sich so laut und ungestüm in ihrem Herzen zu regen begann.
Aber er kam nicht. Auch heute wieder nicht.
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Reue's Eltern waren endlich zu der Überzeugung gelangt, ihr Sohn habe jetzt genügend Zeit, Jugeudkraft und Geld vergeudet, und sie hatten ihm nun eine mittellose, hübsche kleine Komtesse aus eiuem der ältesten Adelshäuser Belgiens aufgefischt, um ihn mit ihrer Hilfe zum solide» Ehemann zu machen. Reue stach der «lte vornehme Name gewaltig in die Augen. Diese kleine Antoinette hätte sogar bei seinen hochmütigsten, hochgeborensten Freunden als gute Partie gegolten, durch sie gewann er Eingang in die exklusivsten Adclskreise. Und geheiratet mußte ja einmal werden; der Vater, von dem er in pekuniärer Beziehung völlig abhängig Mar, wollte es nun einmal so.
Freilich der Gedanke an sein Verhältnis zu der kleinen Josephine bedruckte ihn. Er schob seiueu Besuch bei ihr immer weiter hinaus. Demi wenn er ihr seine Verlobung mitteilte, erwartete ihn, so dachte er. eine peinliche Szene, und der feinfühlige Rene' fürchtete uud verabscheute alle Szeneu und ging ihnen sorgsam ans dem Wege. Auch diesesmal schob er die leidige Sache von Tag zn Tag hinaus, in der Hoffnung, das gefällige Schicksal werde ihn schon ans die eine oder die andre Weise der Mühe des unbequemen Eingriffs entheben und die Sachlage ohne fem Dazutun in Richtigkeit bringen. Was hätte er der kleinen Josephine "uch zum Tröste sagen sollen? Wäre er nur brutaler angelegt gewesen, er wäre hingegangen und hätte die Fessel kurzerhand zerrissen. Aber sein fem entwickeltes Taktgefühl sträubte sich dagegen, ihr eine Abfindungssumme anzubieten, nnd sein verfeinertes Empfinden erlaubte ihm noch weniger, sie einem seiner Freunde zu empfehlen. So bemühte er sich denn, so wenig wie möglich an die lästige Geschichte zu denken, beschäftigte sich eingehend mit den Plänen für sein zukünftiges Haus uud dessen Einrichtung, fuhr mit seiner eben erst aus der Klosterschule entlassenen sittsamen jungen Braut die üblichen Visiten ab uud überflog uur obenhin die ungeschickten kleinen Briefe, die Fintje ihm schrieb, und zerriß sie sogleich sorglich in kleine Fetzen.
Wohl ist Brüssel groß genug, daß man einsam darin leben kann, mcht aber groß genug, dem Klatsch die Lebensbedingungen zu entziehen.
Grenzbotcn I 1905 47