Bilder aus dem deutsch-französischen Kriege
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Von einer Ersatzabteilung in einem fernen kleinen Städtchen einem Truppenteil vor Straßburg zugesandt, kamen wir tief in der Nacht in einem Dorfe an. das keine andern Bewohner mehr als Soldaten und fast nichts mehr von seinen Häusern als die Mauern und Ziegeldächer hatte: ausgeleert und ausgebrannt. Die Ungastlichkeit schaute sogar in der dunkeln Oktobernacht aus den zerbrochnen Fenstern, an denen die Läden herabhingen oder mit langen Hopfenstangen von unten zngestemmt waren, und den dunkeln Toren, vor denen statt der Türen, die in Straßeugefechteu eingetreten oder eingeschlagen worden waren, Bretter lehnten, in deren Toreingängen zerbrochne Wagen lagen, durch deren Giebeldächer zufällige, unregelmäßige Stücke dunkelblauer Luft mit Bruchstücken von Sternbildern hereinschauten. Von Vorposten angerufen, von Patrouillen angehalten, von einem Quartierposten zum andern geschickt, fanden wir in irgendeiner entlegnen Scheune, deren Dach aus Sparreu, Luft und wenig hängen gebliebnen Ziegeln bestand, die zweite Korporalschaft der zweiten Kompagnie im tiefsten nachmitternächtlichen Schlummer. Kein Laut als der regelmäßige Schritt des Quartierpostens, und dann und wann das An- und Abschwellen des Schnarchens, das der Soldat treffend Holzsägen nennt; durch deu kräftigen Rippenstoß eines ungeduldigen Nachbarschläfers unterbrochen endigt es manchmal in einer im Traum hervor- gestoßnen Verwünschung, beginnt aber sehr bald wieder und steigert sich bis zu deu höchsten Tönen. Mir klopft das Herz bei dein Gedanken, endlich mein Ziel erreicht zu haben; in dieser Schläfer- und Schnarcherschar lag mein Freund Reiske, dem zuliebe ich es mit viel Mühe durchgesetzt hatte, gerade in dieses Regiment und auch gerade in diese Kompagnie eingestellt zu werden. Ob er eine Ahnung hat, ob er vielleicht träumt, daß ich so nahe bin? Mein Herz klopfte aber vielleicht auch noch aus einem andern Grunde, denn mir entsank aller Mnt bei dem Blick auf den Inhalt der Scheune; da lagen sie dichtgedrängt, die Musketiere, gleich neben der Tür ein Unteroffizier, der etwas Raum zwischen sich und der Mannschaft hatte; diese aber dicht beisammen, die Köpfe gegen die beiden Mauern, die Beine in der Mitte geschickt ineinander übergreifend, sodaß kein Plätzchen unbelegt blieb nnd besonders kein Pfad dazwischen offen war. Was war zu tun? Sich hineinwagen, um etwa ruhig bis zum Morgen ans einem Häufchen Stroh zu Warten uud zu schlummern, dazu schien keine Aussicht zu sein, wenn man nicht bei den ersten Schritten gleich ein paar Hände oder Füße zertreten wollte. Ich rufe aufs Geratewohl in den dunkeln Raum hinein: Ist der Musketier Reiske hier? Keine Antwort, als Stöhnen eines Leichtschläfers. Noch einmal: Musketier Reiske? Da eine Stimme: Was will da einer? eine andre Stimme: Maul halten! Die weckt wieder eine andre: Zeit zur Ablösung! Auf! O weh, schon zwei Uhr? Da ruft einer Reiske; wer ist das? Ich, der Kriegsfreiwillige Mahler. Mahler, du? töut es von ganz hinten her, das ist Reiskes Stimme, ich halte mich nicht mehr, eile gestoßen und getreten und trotz aller Sorgfalt bei jedem Tritt an und auf Körper und Gliedmaßen stoßend und tretend durch das Gewirr von Armen und Beinen auf die Ecke der Scheune zu, woher der vertraute Laut erschollen war; doch ehe ich dahin kam, hatte ein baumlanger Mensch mich beim erhabnen Bein gepackt, sodaß ich, einbeinigen Stehens ungewohnt, auf den nächsten fiel, der mich mit hörbarem Fluch und Ruck weiter beförderte. Und so lag ich meinem Freund im Arm oder vielmehr auf dem Arm, denn dieser war schlaftrunken gerade im Begriff, sich zu strecken, als ich auf ihn halb rollte und halb flog. Flüche und Gelächter übertönten noch eine halbe Minute unsre Begrüßungsworte, ein Rascheln und Scharren durch das Zurechtrücken der gestörten Schläfer, die Stimme des Postens durch die Türöffnung: Ruhe, es ist noch nicht eins, und dann wieder die tiefe Ruhe wie vorher.
Ich flüsterte meinem Freund und nunmehrigen Kompagniekameraden noch ein, paar Botschaften zu, er teilte mir kurz die wichtigsten Daten aus dem derzeitigen Bestand der Kompagnie mit, und daß wir voraussichtlich in der Frühe um sechs Grenzboten I 1905 14